DIE DEUTSCHE VORGESCHICHTE
IN QUELLEN
(bis 918)

I.

Wer sind die Deutschen?

 

Die ethnischen Bestandteile des deutschen Volkes
(Valentin Veit: Geschichte der Deutschen. Von den Anfängen bis 1945. Gütersloh 1993, S. 21-24.)

 Das deutsche Land brauchte lange, um deutsch und nichts anderes zu werden. Die deutschen Menschen brauchten lange auf  ihrem Werdegang zum deutschen Volke. Die deutsche Geschichte beginnt nicht mit den Cimbern und Teutonen, sie beginnt auch nicht mit Hermann den Cherusker. Es gab damals Germanen, Kelten, Römer, aber noch keine Deutschen.  Die Germanen sind keine Deutschen, und die Deutschen sind keine Germanen. Nur ein kleiner Teil der Deutschen ist überwiegend germanischen Ursprungs.
 Das deutsche Volk  ist aus den verschiedensten Bestandteilen zusammengewachsen, im vollen Lichte der Geschichte. Die vier Hauptbestandteile des deutschen Volkes sind: die Überreste der vorindoeuropäischen Urbevölkerung, die Kelten, die Germanen und die Slawen. Dazu kommen als Nebenbestandteile die "Römer", die Skandinavier, die Litauer und, seit der Mitte des achzehnten Jahrhunderts, die bis dahin praktisch abgeschlossen lebenden Juden. Die aus Frankreich eingewanderten Hugenotten waren selbst kelto-germanisch oder kelto-römisch, stellen also nur kulturell einen neuen Faktor dar. Über die Hauptbestandteile des deutschen Volkes mag noch gesagt werden, daß die Überbleibsel der vor-indogermanischen Urbevölkerung nicht unterschätzt werden dürfen.
 Die sogenannten Völkerwanderungen waren tatsächlich Eroberungszüge, die mit der Vernichtung der bis dahin herrschenden Oberschicht und der Versklavung der Unterrschicht sowie der Frauen und Kinder der Oberschicht endeten.  Tötung beschränkte sich meist auf Vernichtung und Opferung der Gefährlichen... Während der Römerzeit sind in West- und Süddeutschland Syrer und Spanier, Afrikaner und Illyrer angesiedelt worden. Sie machten die Urbestandteile der deutschen Städtebevölkerung aus. Andererseits erhielten sich die Reste der vorindogermanischen Urbevölkerung vorzugsweise in den Gebirgen, ebenso die slawischen Bestandteile auf dem Lande. Die scharfen Gegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen Osten und Westen mögen dadurch mit verursacht sein.
 Allgemein läßt sich sagen, daß der Westen und Südwesten Deutschlands keltorömischen, der Nordwesten germanischen, die Mitte und der Süden kelto-germanischen, der Südosten kelto-slawischen, der Osten germano-slawischen Charakter trägt. Der vorindoeuropäische Einschlag kam besonders in den Alpenländern und im Mittelgebirge, der skandinavische Einschlag nur in Ostpreußen zur Geltung. Kein großes europäisches Volk ist aus so vielen Bestandteilen zusammengesetzt  wie das deutsche.
 Die Deutschen sind keine Arier. Nur Perser und Inder können wissenschaftlich als Arier bezeichnet werden. Die Deutschen sind keine Indogermanen. Die Bezeichnung Indogermanen ist irreführend und deshalb von der Wissenschaft aufgegeben worden. Die Deutschen gehören zur indoeuropäischen Völkerfamilie, wenn auch der vorindoeuropäische Einschlag wahrscheinlich stärker bei den Deutschen ist als bei den westeuropäischen Völkern. Die Deutschen sind keine reinen Germanen, aber ihr Volkstum enthält eine starke germanische Komponente. Soll man eine Schätzung wagen, so dürften noch nicht vierzig, wahrscheinlich kaum dreißig  Prozent des heutigen deutschen Volkstums als vorwiegend germanisch bezeichnet werden. Die nächst-stärkste Komponente ist die keltische, dann folgt die slawische. Das Wachstum des Deutschtums ist langsam vonstatten gegangen - die Anfänge liegen in der Zeit Karls des Großen. Fertig ist das deutsche Volk geschichtlich erst um 1300, und es hat nachher noch, wie selbstverständlich, große Veränderungen seines ethnischen Aufbaus durchgemacht.
 
 

Germanisches Europa
(Krywalski, Diether u.a.: Die Welt des Mittelalters. Münster 1984. S. 10)

Die Frage nach der Urheimat der Germanen ist unlösbar mit der nach ihrer Stammesbildung, d.h. Entstehung, verbunden. Tacitus berichtet von einer alten Sge, die erzählt, daß der erdentsprossene Gott Tuisto ... einen Sohn Mannus gehabt habe, der der Stammesbegründer gewesen sei. Seine drei Söhne hätten dann den drei germanischen Stammesgruppen die Namen gegeben ("... nach deren Namen die unmittelbar an der Küste des Ozeans lebenden Stämme Ingaevonen, die Völker in der Mitte des Landes Herminonen, die übrigen Istaevonen heißen sollen").  In Wirklichkeit war die Stammesbildung ein vielschichtiger Prozeß aus Verschmelzungen und Differenzierungen, der heute primär von der Sprachforschung gedeutet und erklärt werden kann: Das Germanische ist eine indogermanische Sprache und besonders mit dem Griechischen, Italischen und Keltischen, entfernter mit dem Sanskrit, Iranischen, Armenischen, Albanischen, Baltischen und Slawischen verwandt. Durch die Erste oder Germanische Lautverschiebung sonderte sich zwischen 2000 und 1000 v. Chr. das Germanische aus dem Indogermanischen (Veränderung des musikalisch-freien zu einem dynamischen Akzent, der auf der Stammsilbe festgelegt wurde, und Umstrukturierung des Vokal- und Konsonantensystems).
 Etwa im 5. Jahrhundert nach Chr. bildete sich dann das Altenglische als eigene Sprache - ein Jahrhundert später trennten sich die Ost- und Westskandinavischen Dialekte, wobei der Einfluß des Südgermanischen im Norden abklang. Im 7. Jahrhundert  erschien das Germanische in Mitteleuropa relativ einheitlich, wobei diese Einheit von der aus dem Süden vordringenden Zweiten Lautverschiebung wieder aufgehoben wurde.
 Wenn man bei den rein sprachhistorischen Fakten auch die Ergebnisse der archäologischen und historischen Forschung berücksichtigt, so läßt sich etwa folgendes Bild der Stammesbildung rekonstruieren, das als Substrakttheorie  bekannt wurde: Die Germanen stammen nicht, wie dies im 19. Jahrhundert häufig angenommen wurde, aus Asien, sondern sind die Westgruppe der Indogermanen, die in West- und Nordwesteuropa siedelte und sich am Ende der Jüngeren Steinzeit (ca. 2000 v. Chr.) aus der Ver5schmelzung zweier Kulturen bildete: Bodenständig war die Trichterbecherkultur, deren Megalithgräber noch heute als sichtbare Zeugnisse erhalten sind. In ihr Siedlungsgebiet drangen die kriegerischen Streitaxtleute ein, die  ihre Toten in Einzelgräbern beisetzten. Die Vermischung der beiden Kulturen dürfte um 1500 v. Chr. vollzogen gewesen sein. Eine Ausdehnung des bisherigen Siedlungsgebietes setzte ein; etwa 1000 v. Chr. wurde das Weser- , Odergebiet, um 750 v. Chr. die Weichselmündung erreicht, und um 500 v. Chr. wurden die Germanen an der Rheinmündung und in den Mittelgebirgen seßhaft.
 Die weitere Landnahme vollzog sich zunächst im Norden, wobei es - so lassen Mythen und Religionsvorstellungen vermuten - zu feindlichen Ausein- andersetzungen mit arktischen Völkern (Samen?) kam. Nach einer teilweisen Vermischung mit diesen Kulturen setzte um 1200 v. Chr. eine erneute Südwanderung ein, die in Mitteleuropa zu einer zweiten Verschmelzung der aus dem Norden zurückdrängenden patriarchalischen Hirtenkultur mit der matriarchalischen Bauernkultur führte. Eine wesentliche Bestätigung dieser komplizierten Stammes bildungsprozesse liefert wieder die Sprachforschung, die nachweisen konnte, daß etwa 30 Prozent des germanischen Wortschatzes  (besonders Worte aus der Seefahrt sowie viele Bezeichnungen  für Tiere, Pflanzen etc.) nicht indogermanisch ist, sondern wahrscheinlich aus der Berührung mit anderen Kulturen, vor allem im Norden stammt ...
 Die Stammesbildung fand einen Abschluß mit der Landnahme der Sachsen (Ingaevonen) von der Nordseeküste nach Süden und Südwesten seit dem 4. Jahrhundert n. Chr., der Ansiedlung der Herminonen  im süd-deutschen Raum (Alemannen, Baiern) und der Ausdehnung des fränkisch-istaevonischen Siedlungsgebiets nach Westen. So entstand aus der Vermischung und politischen Verbindung der drei von Tacitus erwähnten germanischen Stammesgruppen die Grundlage der althochdeutschen Dialekte und die Vielfalt des deutschen Volkstums.
 
 

Die Welt der Germanen
(Pleticha, Heinrich (Hrsg.) Weltgeschichte. Bd. 3, Rom und  der Osten. Völker und Staaten Europas und Asiens. Gütersloh 1987, S. 296)


 Der Zusammenbruch des oströmischen Reiches wurde maßgeblich mit ausgelöst von Völkerstammen, die, von Norden kommend, die Grenzverteidigung durchbrachen. Wir sprechen heute im Hinblick auf diese Stämme ganz selbsverständlich von den Germanen und wissen nicht einmal über ihre Herkunft in allen Einzelheiten Bescheid.
 Selten ist in der Geschichte ein Name so ungenau verwendet worden wie dieser. Zwar eine Tausende Bücher und Aufsätze zur Germanen-Frage geschrieben, kluge und törichte Hypothesen aufgestellt worden, wurde zeitweilig dieses Volk, das doch im strengen Sinne eine ganze Gruppe von Völkern war, sogar zu einem nationalen Leitbild erhoben, aber trotzdem bleiben auch beim heutigen Stand der Forschung noch eine Reihe Fragen offen.
 Von einigen wenigen dürftigen Hinweisen abgesehen, stammen die ersten ausführlichen Nachrichten über die Germanen von Caesar, der  sie in seinem Werk über den Gallischen Krieg als Bevölkerungsgruppe am Niederrhein von den Kelten unterschied. Hier allerdings zeigt sich schon ein erstes Problem, wenn er beispielsweise sagt, daß jene "Cimbern und Teutonen", die gegen Ende des 2. vorchristlichen Jahrhunderts das Römische Reich bedrohten, Germanen gewesen seien. So klar und selbstverständlich ist selbst diese Zuordnung nicht, da man zumindest für diese Zeit oft keine eindeutige Unterscheidung zwischen Germanen und Kelten treffen kann.
 (...) Bei der Suche nach der Herkunft dieser Germanen sind wir ausschließlich auf Bodenfunde angewiesen, die uns bei den Anfängen in die Küstengebiete von Ost- und Nordsee führen. Ob man ihren Ursprung schon bei den sogenannten "Streitaxtleuten" um 2000 v. Chr. suchen kann, bleibt ebenso ungeklärt, wie die Hypothese, daß die Germanen aus
einem indogermanischen Urvolk hervorgegangen seien. Bis zur Mitte des 1. vorchristlichen Jahrtausends hatten sich in Nord- und Mitteldeutsch-land schon einige Kulturgruppen herausgebildet, die an der späteren Entwicklung der germanischen Stämme Anteil hatten, wie etwa die Harpstedter Gruppe im Westen, die Jastorfer Gruppe in der Mitte und die Pommersche Gruppe im Osten. Vor allem im Bereich der Jastorper Gruppe zwischen Weser und Oder bestehen in der Entwicklung enge kultische Zusammenhänge mit den späteren Germanen. Die Stammes-bildung war denn bis etwa zum 1. vorchristlichen Jahrhundert weitgehend fortgeschritten, zugleich setzte auch eine erste stärkere Wanderbewegung und damit verbunden eine ethnische Verschiebung ein.
 
 
 

Die Germanen
(Veit, Georg; Germanen, Kelten, Römer und Slawen. Kulturvermischung im Gebiet des heutigen Deutschland. In: Geschichte LERNEN. Heft 29)

Die Germanen haben den Deutschen lange Zeit  ihren Namen geliehen. Daß überhaupt und wie sie sich gebildet haben und wohin sie sich verlieren, darüber lassen die Schulbücher uns im Unklaren. Sie  blenden bei den Kimbern oder  Varus ein und bei Karl dem Großen wieder aus ...
 Als gesichert kann jedoch folgendes gelten: Die Germanen sind nicht als monolithische  Population entstanden, sondern auf der ethnischen Basis nordid - dalischer Mischtypen (entwickelt wiederum u.a. aus  Brünn- und Cromagnonformen), die ab 2300 v. Chr. als Träger der Schnurkeramik in Erscheinung traten. In Schleswig-Holstein und Dänemark ist diese indo-germanische, rassisch keineswegs einheitliche Einzelgräberkultur (langsam entwickelt aus der megalithischen Trichterbecherkultur - Mesolithikum) deutlich nachzuweisen.
 Die weitere Entwicklung der protogermanischen Population ist nur zu begreifen, wenn man auf einen fixierten Germanenbegriff möglichst lange verzichtet. Denn die kerngermanische Jastorf-Formengruppe (Jütland - Norddeutschland) ist in ihrer Prozeßhaftigkeit kaum abgrenzbar. Diese Kultur hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Jungbronze-zeitkultur autochton, aber  unter vielfältigen Kultureinflüssen gebildet und verändert. Im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. sind weitreichende wirtschaftliche Beziehungen (Eisenhandel!) festzustellen, die u.a. die Bestattungsriten veränderten.  Im 6. und 5. Jahrhundert wirkte die protokeltische Hallstattkultur tief in diesen nördlichen Kulturbereich ein. Dieser Vorgang muß auch in seiner gesellschaftsverändernden Bedeutung gewürdigt werden.
 Ebenso wurde von hier aus das ästhetische Empfinden der Jastorfleute maßgeblich beeinflußt. (Übrigens wurde in dieser Zeit von reiternomadischen Völkern des Südostens die Hose übernommen.) Sie dürfen bereits als Germanen angesprochen werden, jedoch nur im Sinne eines Sammelbegriffs für eine Vielzahl von Stämmen, da sie z.B. unterschiedliche Bestattungsbräuche aufweisen. In der allgemeinen (Hallstatt-orientierten) Stilentwicklung findet sich dagegen eine weitgehende Übereinstimmung. Wahrscheinlich zwischen 500 und dem 1. Jahrhundert v. Chr. hat sich in diesem Raum die Ausgliederung der germanischen Dialektgruppe aus der westindoeuropäischen Dialektgruppe vollzogen.
 Die Ausdifferenzierung in einzelne Stämme hat  durch die Vermittlung der hallstattlichen Eisentechnik einen großen Schub erhalten. Erst im 2.-1. Jahrhundert v. Chr. haben diese Stammesbildungen einen uns faßbaren Ausdruck gefunden (Kimbern, Teutonen, Sueben, Cherusker etc.). Interethnische Berührungen waren also entscheidend für die Bildung der germanischen Stämme. Für die Zeit um Christi Geburt sind aus dem Material differenzierte Besiedlungsvorgänge zu folgern. Eine Tendenz zur Vereinheitlichung der materiellen Kultur wird spürbar, jedoch zeigen sich naturgemäß  Unterschiede  in Erscheinungsformen und Entwicklungstempo. Inwieweit die kulturellen  Ungleichheiten auf ethnischen Unterschieden beruhen, ist wissentschaftlich noch nicht geklärt, jedoch wird die These von der Entstehung der Germanenstämme aus nur einer Wurzel immer fraglicher. Daß Reste keltischer und urnenfeldlicher Ethnien (Substrate) an der germanischen Ethnogenese ihren Anteil hatten, ist wahrscheinlich. Man muß sich zudem davor hüten, z.B. einen Formenwandel auf einen Wechsel der Population zurückzuführen, also eine simple Überlagerung und Ausbreitung der Germanen (Germanisierung) von Norden nach Süden zu konstruieren.
 ...  Zu allen Zeiten und bei allen Völkern sind kollektive Vorurteile gegen Fremdes und Fremdempfundenes im eigenen Milieu festzustellen. Gegen die Einsicht, daß die eigenen Ursprünge aus Vermischung abzuleiten sind, zeigt sich die menschliche Emotion recht allergisch ... Analog dazu erscheinen die europäischen Wissenschaften keineswegs als Wegbereiter von Objektivität. Trotz ihrer sachlichen Attitüde neigen sie allzusehr zur Hierarchisierung und Rasterung von  Kulturen, zur Stilisierung geheimer Überlegenheitsaffekte (europäische Lebensform als Vorhut einer universalen Vernunft) und von Überfremdungsängsten.
 Freilich waren bis zur Renaissance in Europa multiethische, universalistische Vorstellungen von der Entstehungsgeschichte und den Lebensformen von Völkern relativ verbreitet. Erst seitdem gewann der Gedanke an Einfluß, einzelne Völker besäßen eine historisch beleg- und begründbare völkische Eigenart, die möglichst rein und unvermischt zu erhalten sei. Zuvor hatten z.B. die Franken sich unbekümmert auf die Trojaner und die Sachsen auf das Alexanderheer zurückgeführt. Seit der Renaissance vergaßen die Franzosen schließlich ganz, daß sie aus einer fruchtbaren Synthese hervorgegangen waren, und proklamierten in der Großen Revolution die "Gallische Nation" gegen den Frankenadel. Zu  welch katastrophalen Exzessen die Ideologie der "Reinheit" des Blutes schließ-lich in Deutschland geführt hat, bedarf nicht der Ausführung. Dennoch bestimmt die Vorstellung von einem Nationalstaat, der auf einer vermeintlich natürlichen Homogenität von Volk, Kultur und Staat beruht, noch heute in der Bundesrepublik die Diskussion über Immigration und Identität.
 ... Die dargelegten Aspekte verweisen allesamt auf eines: Kulturvermischung ist eine Normalität historischer Realität, wie unterschiedlich die Wertung dieses Phänomens auch ausfallen mag. Wir dürfen daraus ableiten, daß Kulturoffenheit zur Menschheitsgeschichte und damit zur conditio humana gehört, also eine anthropologische Konstante darstellt wie die Erfahrung von Eigenem und Fremdem. Weiter wird der Blick auf die Fruchtbarkeit solcher Vermischung für Völker und Kulturen gelenkt. Die deutsche Geschichte darf als wichtiger Fall dieser Annahme zahlen.
 
 

II.

Deutsche Völker: wie die Zeitgenossen sie sahen

 

Caesar, über die Lebensweise der Sweben, um 50 v. Chr.
(In: Geschichtliche Weltkunde 1. Hsg. von Wolfgang Hug, Verlag Moritz Diesterweg 1981)

Die Völkerschaft der Sweben ist bei weitem die größte und kriegerischste unter allen Germanen. Sie soll in 100 Gaue eingeteilt sein, aus denen sie jährlich 1000 Bewaffnete zu Kriegen außerhalb ihres Landes schicken. Die Daheimgebliebenen schaffen für sich und die Ausgezogenen den Unterhalt. Sie lösen im Jahre darauf im Felde ab, während dann diese zu Hause bleiben. So erleidet weder der Ackerbau noch die planmäßige Übung im Kriegsdienst eine Unterbrechung. Aber privaten und abgesonderten Besitz an Grund und Boden gibt es bei ihnen nicht. Niemand darf länger als ein Jahr an ein und derselben Stelle das Land bestellen. Sie nähren sich nicht viel von Getreide, sondern vor allem von Milch und Fleisch und sind viel auf der Jagd. Alles dies, ihre Nahrung, ihre tägliche Übung, ihr ungebundenes leben - sind sie doch von Jugend an an keine Pflicht und Zucht gebunden und tun nichts gegen ihren Willen - fördert ihre Kräfte und entwickelt Menschen von gewaltiger Körpergröße. Sie haben sich auch daran gewöhnt, daß sie sich selbst in ganz kalten Gegenden nur mit Fellen bekleiden, bei deren Kleinheit ein großer Teil des Körpers nackt bleibt, und in den Flüssen zu baden.
 Den fremden Kaufleuten steht ihr Land mehr deshalb offen, damit sie ihre Kriegsbeute verkaufen können, nicht aber weil sie etwas einzuführen wünschen. Ja die Germanen verwenden nicht einmal eingeführtes Zugvieh, an dem die Gallier so große Freude haben und für das sie große Kosten aufwenden. Die bei ihnen geborenen Tiere sind zwar klein und häßlich, aber durch tägliche Übung erreichen sie es, daß sie sehr leistungsfähig sind.
 Den Ackerbau pflegen sie nicht besonders. Der größte Teil ihrer Nahrung besteht in Milch, Käse und Fleisch. Niemand von ihnen hat ein bestimmtes Maß Ackerland oder Grundbesitz. Vielmehr weisen die Obrigkeit und Fürsten jedes Jahr den Geschlechtern und Sippen und denen, die zusammengewandert sind, Land an, wieviel und an welchem Ort es ihnen gutdünkt. Nach einem Jahr werden sie gezwungen, anderswohin umzusiedeln. Dafür geben sie viele Gründe an: Sie sollen nicht durch die stete Gewohnheit an den gleichen Besitz das Kriegshandwerk mit dem Ackerbau vertauschen. Sie sollen nicht nach Großgrundbesitz trachten, und die Mächtigeren sollen die Ärmeren nicht aus ihrem Besitz vertreiben. Sie sollen nicht zu viel Sorgfalt auf den Bau ihrer Häuser verwenden, um sich vor Kälte und Hitze zu schützen. Es soll die Geldgier unterdrückt werden, aus der nur Parteiungen und Zwistigkeiten entstehen. Es soll der zufriedene Sinn des einfachen Volkes erhalten werden, indem jeder sieht, daß sein Besitz auch dem der Vornehmsten gleichkommt.
 
 

Publius Cornelius Tacitus: Germania
(Verlag Ph. Reclam jun., Leipzig 1976)

 

Geographische Lage

1. Germanien in seiner gesamten Ausdehnung wird von den Galliern und den Galliern und den Rätern und Pannoniern durch den Rhein und die Donau, von den Sarmaten und Dakern durch gegenseitige Furcht oder Gebirgszüge geschieden. Das übrige Germanien umspült der Ozean ...
Herkunft und der Germanen

2. Die Germanen selbst sind meiner Meinung nach wohl Ureinwohner und haben sich keineswegs mit anderen Völkern vermischt, die gewaltsam eindrangen oder gastliche Aufnahme fanden ... Wer hätte ... Lust verspüren sollen, Asien oder Afrika oder Italien zu verlassen und Germanien aufzusuchen, dieses unwirtliche Land mit seinem rauhen Klima, trostlos zu bebauen und zu beschauen, es müßte denn gerade seine Heimat sein? (...)
Das Wort Germanien sei ... jüngeren Ursprungs und vor nicht langer Zeit erst aufgekommen. Die ersten nämlich, die den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben hätten, die jetzigen Tungrer, hätten damals Germanen geheißen. Allmählich sei nun dieser Name eines einzelnen Stammes, nicht eines ganzen Volkes, üblich geworden, indem zunächst alle nach dem Sieger, aus Furcht vor ihm, als Germanen bezeichnet wurden, dann aber sich auch selbst so nannten, nachdem der Name einmal aufgekommen war.

Volkstypus und Aussehen

4. Ich für meine Person schließe mich der Ansicht an, daß sich die Bevölkerung Germaniens nicht mit Fremden durch Heiraten vermischt hat und so ein reiner und nur sich selbst gleicher Menschenschlag geblieben ist. Deshalb ist auch die äußere Erscheinung, trotz der so großen Menschenzahl, bei allen die gleiche: trotzige blaue Augen, rotblondes Haar und hoher Wuchs; doch reicht die Kraft ihres Körpers nur zum Angriff. Mühseliger Anstrengung sind die Germanen nicht im gleichen Maße gewachsen und am wenigsten können sie Durst und Hitze aushalten; dagegen sind sie an Kälte und Hunger durch Klima und kargen Boden gewöhnt.

31. Ein Brauch, der sich auch bei anderen germanischen Stämmen findet, wenn auch selten und nur als Beweis persönlichen Wagemutes, ist bei den Chatten allgemeine Sitte geworden. Sobald sie zu Jünglingen herangewachsen sind, lassen sie Haupthaar und Bart wild wachsen und legen diese Tracht, durch die sie sich der Tapferkeit verpflichten und  die sie ihr gleichsam als Pfand geben, nicht eher ab, als bis sie einen Feind erschlagen haben. Den blutigen Leichnam und die erbeuteten Waffen zu Füßen, machen sie ihre Stirn frei und erklären, jetzt erst hätten sie sich ihr Daseinsrecht erkauft und jetzt erst seien sie ihres Vaterlandes und ihrer Väter würdig. Feiglinge und unkriegerische Naturen behalten den Haarwust bei.

38. (...) Die Sueben dagegen kämmen bis ins Alter das widerspenstige Haar nach hinten und binden es oft gerade auf dem Scheitel in einem Knoten hoch, und die Haartracht der Vornehmen ist noch kunstvoller. Das ist zwar Schönheitspflege, aber harmloser Art; denn nicht für Liebesabenteuer putzen sie sich so, sondern um größer zu erscheinen und um Schrecken zu erregen, da sie ja vor die Augen des Feindes treten wollen.

Heerwesen

6. Nicht einmal Eisen besitzen die Germanen im Überfluß; das ergibt sich schon aus ihrer Bewaffnung. Nur wenige haben Schwerter oder größere Lanzen. Ihre Waffen sind Speere oder, wie sie sie selber nennen, Framen mit einer schmalen und kurzen Eisenspitze, die aber so scharf und handlich ist, daß sich ein und dieselbe Waffe, je nach Bedarf, zum Nah- oder Fernkampf verwenden läßt. Der Reiter begnügt sich mit Schild und Frame. Das Fußvolk wirft auch noch kleinere Spieße, einer immer mehrere, und zwar ungeheuer weit. Dabei sind sie nackt oder nur mit einem Umhang leicht bekleidet. Ein Prunken mit schmucken Waffen ist den Germanen fremd; lediglich ihre Schilde bemalen sie mit sorgfältig ausgesuchten Farben. Nur wenige tragen einen Panzer, kaum der eine oder andere einen Helm aus Metall oder Leder.
 Die Pferde der Germanen zeichnen sich weder durch Schönheit noch durch Schnelligkeit aus. Sie werden auch nicht, wie das bei uns üblich ist, zu kunstvollen Wendungen abgerichtet; man reitet vielmehr geradeaus oder mit einer Schwenkung nach rechts, und zwar in so geschlossener Linie, daß niemand zurückbleibt.
 Im allgemeinen liegt die Hauptkraft bei den Kämpfern zu Fuß, weshalb man auch in gemischten Verbänden kämpft. Aus der gesamten Jungmannschaft zu Fuß wählt man Leute aus und stellt sie an die Front, und ihre Behendigkeit paßt sich den Reiterkampf vorzüglich an. Ihre Zahl ist genau festgelegt: Hundert Mann sind es aus jedem Gau, und Hundertschaften heißen sie deshalb auch bei ihren Landsleuten, und die ursprüngliche Zahlbezeichnung ist nunmehr ein Ehrenname geworden.
 Zur Schlacht ordnen sich die Germanen in keilförmigen Haufen. Ein Zurückgehen lediglich zum Zwecke eines neuen Vorstoßes gilt eher als ein Zeichen von kluger List als von Angst.

7. Bei der Wahl von Königen ist die adlige Abkunft, bei der von Herzögen die persönliche Tapferkeit ausschlaggebend. Die Könige besitzen keine unbegrenzte oder willkürliche Macht, und die Herzöge, mehr durch ihr Vorbild als durch ihre Befehlsgewalt Führer, verdanken ihre Stellung der Bewunderung, (...)
 Am meisten spornt er sie zur Tapferkeit an, daß nicht Zufall und willkürliche Zusammenrottung, sondern Familien und Sippen ihre Reitergeschwader oder Schlachtkeile bilden. Auch befinden sich ihre Angehörigen in unmittelbarer Nähe, ...

Verfassung der Germanen

11. Über weniger wichtige Angelegenheiten entscheiden die Fürsten, über wichtigere die Gesamtheit der Freien, jedoch so, daß auch das, worüber das Volk zu entscheiden hat, vorher von den Fürsten beraten wird. Außer bei unvorhergesehenen und plötzlichen Ereignissen kommen die Germanen an bestimmten Terminen zusammen, entweder bei Neu- oder Vollmond; denn für Unternehmungen erscheint ihnen diese Zeit als ein besonders verheißungsvoller Anfang. Sie rechnen übrigens nicht nach Tagen wie wir, sondern nach Nächten; demgemäß setzen sie Termine fest und treffen Verabredungen. Nach ihrer Auffassung geht die Nacht dem Tage voran.
 Eine Schattenseite ihrer persönlichen Ungebundenheit ist es, daß sich die Thingteilnehmer  nicht alle auf einmal und nicht wie auf Befehl einfinden. Infolgedessen verstreicht ein zweiter oder auch ein dritter Tag wegen des unpünktlichen Eintreffens der einzelnen ungenützt. Sobald es der Menge beliebt, nimmt man Platz, und zwar in Waffen. Die Priester, die bei dieser Gelegenheit auch Strafgewalt haben, gebieten Ruhe. Dann schenkt man dem König oder einem der Fürsten je nach Alter, Kriegsruhm oder Beredsamkeit des einzelnen Gehör, wobei er mehr ein Vorschlagsrecht als eigentliche Befehlsgewalt besitzt. Mißfällt ein Vorschlag, so lehnt ihn die Masse durch Murren ab; findet er jedoch Beifall, so schlägt man die Framen aneinander. Dieser mit den Waffen gezollte Beifall ist die ehrensvollste Art der Zustimmung.

12. In einem Thing darf man auch Anklage erheben und Verfahren auf Leben und Tod anhängig machen. Die Strafen richten sich nach der Art des Vergehens: Verräter und Überläufer hängt man an Bäumen auf; Leute, die im Krieg versagen, sich dem Kriegsdienst entziehen und Unzucht treiben, versenkt man in Sumpf und Moor und deckt noch Flechtwerk darüber...
 ... Wer  überführt wird, muß eine Anzahl Pferde und Vieh abliefern. Ein Teil der Buße fällt dem König oder dem Stamme zu, ein Teil dem Geschädigten selbst oder seiner Sippe.
 Auf diesen Things werden auch Fürsten gewählt, die in den Dörfern ihrer Gaue Recht sprechen. Jedem von ihnen stehen hundert Mann aus dem Volke als Beirat und zur Stärkung seines Ansehens zur Seite.

13. ... Hoher Adel oder große Verdienste der Vorfahren verleihen auch noch ganz jungen Leuten den Rang eines Gefolgsherrn. Die anderen Jugenlichen werden den Stärkeren und im Kampf längst Erprobten zugewiesen ... Ja, innerhalb der Gefolgschaft selbst gibt es sogar Rangstufen, die der Gefolgsherr festsetzt, und es herrscht ein lebhafter Wetteifer, einerseits unter den Gefolgsleuten, die erste Stelle bei dem Gefolgsherrn einzunehmen, andererseits unter den Gefolgsherren, die meisten und entschlossensten Gefolgsleute zu besitzen....

15. ... Es ist bei den Stämmen Brauch, daß jeder einzelne unaufgefordert seinem Fürsten etwas von seinem Vieh oder Feldfrüchten abgibt. Das wird als Ehrengabe angenommen, die zugleich zur Bestreitung der täglichen Bedürfnisse dient.

25. ... jeder Sklave steht einem eigenen Hofe, einem eigenen Heim vor. Sein Herr legt ihm, wie einem Pächter, lediglich eine bestimmte Abgabe von Korn, Vieh oder Stoff auf, und nur insofern besteht eine Verpflichtung des Sklaven. Alle übrigen Geschäfte im Hause besorgen die Frau und die Kinder des Herrn. Daß man einen Sklaven schlägt, fesselt und mit Zwangsarbeit bestraft, kommt nur selten vor.
 Die Freigelassenen stehen im Range nicht viel höher als die Sklaven; selten nur gelten sie etwas im Hause, niemals aber in der Gemeinde, mit Ausnahme lediglich der Stämme, die von Königen beherrscht werden. Hier steigen sie nämlich über die Freigeborenen und sogar über die Adligen empor; ...

Wirtschaft

26. Geld auf Zinsen auszuleihen und die Zinsen zum Kapital zu schlagen, kennt man bei den Germanen nicht, und deshalb unterbleibt es eher, als wenn es verboten wäre.
 Ackerland wird ein einem Umfange, der der Zahl der Bebauer entspricht, von der Gesamtheit in Besitz genommen; dann teilt man es untereinander nach Rang und Würde auf, und die weite Ausdehnung der Lädereien gewährleistet eine leichte Teilung.  - Die einzelnen Siedler nehmen Jahr für Jahr ein anderes Stück ihres Bodens unter den Pflug, und trotzdem bleibt noch Land brachliegen. Sie mühen sich nämlich nicht in harter Arbeit um die Fruchtbarkeit und Ausdehnung ihrer Lädereien, etwa in der Weise, daß sie Obstgärten anlegten, Wiesen abgrenzten und Gemüsegärten bewässerten. Einzig und allein Getreide soll ihnen der Boden bringen. Deshalb teilen sie auch das Jahr nicht in so viele Zeiten wie wir.

45. Im Norden der Suionen liegt ein anderes Meer, träge und fast ohne Bewegung. ... An seiner rechten Küste bespült das Suebische Meer das Land der Astierstämme. ... Nur selten verwenden die Astier Waffen aus Eisen, häufiger dagegen aus Holzkeulen. Beim Anbau des Getreides und der sonstigen Feldfrüchte beweisen sie eine größere Ausdauer, als man bei der üblichen Lässigkeit der Germanen erwartet. Aber auch das Meer durchsuchen sie, und sie sind die einzigen von allen Germanen, die an seichten Stellen und am Strande selbst den Bernstein sammeln, der bei ihnen "Glesum" heißt. Seine natürliche Beschaffenheit oder Entstehungsweise haben sie, wie das bei Barbaren nicht anders zu erwarten ist, nicht untersucht und gar erforscht. ... Die Astier selbst verwenden ihn überhaupt nicht; sie lesen ihn auf, roh, wie er ist, bringen ihn unbearbeitet zum Händler und staunen über den Preis, den man ihnen dafür zahlt. ...

41. Das Gebiet der genannten Suebenstämme erstreckt sich bis in die entlegeneren Gegenden Germaniens.  Uns näher ... wohnt der Stamm der Hermunduren, der den Römern treu ergeben ist. Daher sind auch die einzigen Germanen, die nicht nur auf dem rechten Donauufer, sondern auch tief im Inneren des Landes und sogar in der glanzvollen Niederlassung der Provinz Raetien (Augsburg) Handel treiben können. Allerorten und ohne Bewachung dürfen sie über  die Grenze. ...

Religion

7.  Übrigens ist es nur den Priestern  erlaubt, jemand zu töten, zu fesseln oder auch nur zu schlagen, und zwar tun sie das nicht um zu strafen oder auf Befehl des Herzogs, sondern gewissermaßen auf Geheiß der Gottheit, die, wie sie glauben, den Kämpfenden zur Seite steht. Deshalb nehmen die Germanen auch gewisse Bilder und heilige Zeichen aus ihren Hainen mit in die Schlacht.

9. Unter den Göttern der Germanen genießt Merkur die höchste Verehrung. Ihm bringen sie an bestimmten Tagen auch Menschenopfer dar. Herkules und Mars stimmen sie sich dur Opferung der dazu freigegebenen Tiere gnädig. Ein Teil der Sueben opfert auch der Isis. ...
 Im übrigens verträgt es sich  mit der Vorstellung der Germanen von der Erhabenheit der Himmlischen, Götter in Wände einzuschließen und irgendwie menschenähnlich darzustellen. Sie weihen ihnen vielmehr Lichtungen und Haine, und mit Namen von Göttern bezeichnen sie jenes geheimnisvolle Wesen, das sie nur in ihrer Verehrung und im Geiste schauen.

10. Auf Vorzeichen und Losorakel legen die Germanen wie kaum ein anderes Volk Wert. Das herkömmliche Verfahren beim Losen ist einfach. Sie zerschneiden einen dünnen Zweig eines fruchttragenden Baumes in kleine Stücke, machen diese durch gewisse Zeichen kenntlich und streuen sie dann über ein weißes Laken hin, ganz aufs Geratewohl und wie es der Zufall fügt. Danach betet bei einer Befragung in einer allgemeinen Angelegenheit der Priester des Stammes und in einer Befragung in einer privaten Angelegenheit der Familienvater zu den Göttern, hebt, den Blick gen Himmel gerichtet, drei Zweigstücke nacheinander auf und deutet sie nach den vorher eingeritzten Zeichen. ...
 Ferner ist  jener weitverbreitete Brauch, Stimme und Flug  von Vögeln zu befragen, auch in Germanien bekannt; dagegen ist es eine germanische Eigentümlichkeit , auch auf Weissagungen und Mahnungen von Pferden zu achten. Auf Stammeskosten hält man in den bereits erwähnten Hainen und Lichtungen schneeweiße Rosse, die durch keinen profanen Dienst entweiht werden. Man spannt sie an den heiligen Wagen und der Priester und der König oder das Oberhaupt des Stammes gehen neben ihnen und achten auf ihr Wiehern und Schnauben. ...
 Es gibt bei den Germanen noch eine andere Art der Beobachtung von Vorzeichen, durch die sie den Ausgang schwerer Kriege zu erkunden suchen. Einen auf irgendeine Weise aufgegriffenen Gefangegen des Volkes, mit dem sie im Krieg liegen, lassen sie mit einem Auserwählten des eigenen Stammes - jeden in den Waffen seines Landes - kämpfen. Den Sieg des einen oder des anderen betrachten sie als Vorentscheidung.

27. Bei Leichenbegängnissen entfalten sie keinerlei Prunk. Nur darauf achten sie, daß die Leichen berühmter Männer mit bestimmten Holzarten verbrannt werden. Den Scheiterhaufen überladen sie nicht mit Teppichen oder mit Räucherwerk; jeder bekommt seine Waffen mit; manchmal wird auch sein Pferd mitgebrannt.
 Über dem Grabe wölbt sich nur ein Rasenhügel. Eine Ehrung durch hohe und kunstvolle Denkmäler lehnen die Germanen als eine Last für den Verstorbenen ab. Jammern und Weinen währen nicht lange; Schmerz und Trauer aber schwinden nur langsam. Den Frauen ziemt laute Klage, den Männern stilles Gedenken.

39. Als älteste und edelste der Sueben bezeichnen sich die Semnonen; ihren Glauben an das hohe Alter bestätigt ein religiöser Brauch: Zu bestimmter Zeit treffen sich Abordnungen aller blutsverwandten Stämme in einem Haine, der durch Vorzeichen, die schon die Väter beobachtet haben, und durch uralte fromme Scheu geheiligt ist. Dann wird von Staats wegen ein Menschenopfer dargebracht und auf schaurigste Weise ein rohes Kultfest begangen. Dem Hain erweist man seine Ehrfurcht auch noch auf andere Weise. Jedermann darf ihn nur in Fesseln betreten, um so seine Ohnmacht und die Macht der Gottheit offensichtlich zu bekunden. Strauchelt jemand zufällig, so darf er sich nicht aufheben lassen und nicht aufstehen; auf dem Erdboden muß er sich hinauswälzen. Der ganze religiöse Brauch geht auf die Annahme zurück, in diesem Haine sei der Ursprung des Suebenvolkes zu suchen, hier wohne die Gottheit, die über alles herrsche, und alles sonst sei ihr unterworfen und zu Gehorsam verpflichtet. Die Machtstellung der Semnonen läßt sie noch an Ansehen gewinnen. Hundert Gaue bewohnen sie, und wegen der Größe ihres Volkskörpers halten sie sich für den Hauptstamm der Sueben.

40. Im Gegensatz dazu adelt die Langobarden gerade ihre geringe Zahl. Inmitten zahlreicher, sehr starker Stämme verschafft ihnen nicht Unterwürfigkeit Sicherheit, sondern Kampf und Wagemut. - Dann folgen die Reudigner, Avionen, Anglier, Varianer, Eudosen, Suardonen und Nuithonen, die durch Flüsse oder Wälder geschützt sind. Zu den einzelnen Stämmen ist nichts Besonderes zu bemerken, außer daß sie gemeinsam die Nerthus, d.i. die Mutter Erde, verehren und glauben, sie nehme am Leben der Menschen teil und komme zu den Stämmen gefahren. In einem heiligen Haine auf einer Insel der Ostsee steht ein geweihter Wagen, der mit einem Tuche zugedeckt ist und den allein der Priester berühren darf. Er merkte es, wenn sich die Gottheit in ihrem Heiligtum eingefunden hat, und gibt ihr dann in tiefer Verehrung das Geleit, wenn sie in dem von Kühen gezogenen Wagen durch das Land fährt. Dann sind Tage der Freude, und festlich geschmückt sind alle Stätten, die die Göttin der Ehre ihrer Einkehr und Rast würdigt. ... Doch nur so lange kennt und liebt man den Frieden und die Ruhe, bis die Göttin des Verkehrs mit den Sterblichen müde ist und der gleiche Priester sie wieder in ihr Heiligtum zurückgeleitet. Darauf werden Wagen und Tuch und - wenn man es glauben will - die Gottheit selbst in einem verborgenen See abgewaschen. Die Sklaven, die dabei helfen, verschlingt alsbald der gleiche See.

Lebensweise

15. Wenn sie sich einmal nicht auf einem Krieg einlassen, verbringen sie nur einen kleinen Teil ihrer Zeit mit Jagden, den größeren jedoch mit Ausruhen, indem sie schlafen und essen. Dabei sind es gerade die Tapfersten und Kriegslustigsten, die überhaupt keinen Finger rühren. Die Sorge für Haus, Hof und Feld bleibt den Frauen, den Alten und allen Schwachen im Haushalt überlassen. Sie selbst leben in stumpfer Trägheit dahin. ...

16. Wie allgemein bekannt, wohnen die Stämme der Germanen nicht in Städten und mögen nicht einmal geschlossene Siedlungen. Sie wohnen vielmehr einzeln und gesondert, je nachdem ihnen ein Quell, ein Feld oder ein Hain zusagt. Ihre Dörfer legen sie nicht, wie wir, so an, daß die Häuser an Wand stehen und eine Straße bilden. Jeder läßt vielmehr um seinen Hof einen freien Raum; vielleicht will man sich dadurch vor Feuersgefahr schützen, vielleicht versteht man sich aber auch nicht recht aufs Bauen. Nicht einmal behauene Steine oder Ziegel benutzen die Germanen; ohne Rücksicht auf gefälliges und schönes Aussehen verwenden sie zu allem unbehauenes Holz. Doch bestreichen sie ihre Häuser an gewissen Stellen ziemlich sorgfältig mit einer so blendendweißen Erdart, daß es wie Bemalung und Verzierung mit farbigen Ornamenten aussieht. Auch ist es in Germanien üblich, unterirdische Höhlen auszuheben und eine dicke Schicht Mist darauf zu legen. Das ist eine Zufluchtstätte für den Winter und Aufbewahrungsort für die Feldfrüchte, und wenn der Feind einmal einbricht, plündert er nur, was offen daliegt; was aber versteckt und vergraben ist, davon weiß er entweder nichts, oder es entgeht ihm gerade deshalb, weil er erst danach suchen muß...

17. Allgemeine Volkstracht ist ein Mantel, der mit einer Spange oder in deren Ermangelung mit einem Dorn zusammengehalten wird. Ohne jede weitere Bekleidung verbringen die Germanen ganze Tage am Herdfeuer. Nur die Wohlhabendsten tragen zur Unterscheidung von den anderen noch ein Untergewand, das aber nicht, wie bei den Sarmaten und Parthern, lose und weit herabfällt, sondern eng anliegt und die einzelnen Gliedmaßen erkennen läßt. Auch Tierfelle werden getragen, von den Stämmen  an Rhein und Donau ziemlich wahllos, mit sorgfältigerer Auswahl dagegen weit drinnen im Lande, weil diese wegen des Fehlens vom Handelsbeziehungen keinen anderen Putz kenne. ... Die Kleidung der Frauen ist nicht anders als die der Männer; nur hüllen sie sich öfters in leinene Umhänge mit purpurrotem Besatz, deren Oberteil jedoch nicht in Armel ausläuft. Infolgedessen bleiben Ober- und Unterarm sowie der anschließende Teil der Brust frei.

18. Dennoch halten die Germanen auf strenge Zucht in der Ehe, ... denn fast als die einzigen von allen nichtrömischen Völkern begnügen sie sich mit nur einer Gattin. ...
 Eine Mitgift bringt nicht die Frau dem Manne, sondern der Mann der Frau. Dabei sind die Eltern der Verwandten zugegen und prüfen die Gaben. Diese sind nicht nach den Liebhabereien der Frau ausgesucht ..., es sind vielmehr Rinder, ein gezäumtes Pferd sowie Schild, Frame und Schwert. Auf diese Gaben hin bekommt der Mann die Frau, die nun auch ihrerseits dem Manne irgendeine Waffe schenkt. Das ist in den Augen der Germanen die stärkste Bindung, das ist die geheimnisvolle Weihe, das ist der göttliche Schutz und Schirm der Ehe. ...

20. In jedem Hause wachsen die Kinder, mangelhaft bekleidet und ungepflegt, zu dem so kräftigen Gliederbau und der so stattlichen Körpergröße heran, die unser Staunen erregen. Jede Mutter nährt ihre Kinder an der eigenen Brust, und man überläßt sie nicht Mägden oder Ammen. Den Herrensohn kann man durch keinerlei Verzärtelung in der Erziehung vom Sklavensohn unterscheiden: zwischen dem gleichen Vieh, auf dem gleichen Boden wachsen sie beide auf, bis das Jünglingsalter die Freigeborenen von den Knechten scheidet und ihr mannhaftes Wesen ihnen Geltung verschafft.
 Spät erst lernen die jungen Männer die Liebe kennen, und deshalb bleibt ihre Manneskraft ungeschwächt. Auch mit der Verheiratung der Jungfrauen hat man es nicht eilig. Bei ihnen findet man die gleiche Jugendfrische und den ähnlichen hohen Wuchs. Einander ebenbürtig an Gesundheit und Stärke gehen sie die Ehe ein, und der Eltern Kraft spiegelt sich in den Kindern wider...
 Erben und Rechtsnachfolger eines jeden sind trotzdem nur die eigenen Söhne, und ein Testament gibt es (bei ihnen) nicht. Sind keine Kinder da, so sind die leiblichen Brüder, die Oheime väterlicher- und mütterlicherseits die nächsten Erben. Je mehr Blutsverwandte, je mehr Verschwägerte jemand hat, um so reicher an Liebe und Verehrung ist sein Alter, und Kinderlosigkeit bringt in keiner Beziehung Vorteile.

21. Die Feindschaften des Vaters oder eines Blutsverwandten muß der Erbe ebenso mitübernehmen wie die Freundschaften. Doch bestehen die Fehden nicht unversöhnlich fort; denn sogar Totschlag kann mit einer bestimmten Anzahl Groß- und Kleinvieh gesühnt werden, und die gesamte Sippe nimmt die Buße an...
 Geselligkeit und Gastfreundschaft pflegt kein anderes Volk eifriger. Einem Menschen, wer es auch sei, kein Obdach zu gewähren, gilt als Sünde. Nach seinem Vermögen bewirtet ein jeder. Sind die Vorräte zu Ende, so vermittelt der bisherige Wirt einen neuen Gastgeber. Sie betreten den nächsten Hof, auch ohne eingeladen zu sein. Doch macht das nichts aus; mit gleicher Herzlichkeit nimmt man sie dort auf...

22. Gleich nach dem Schlafe, den sie häufig bis in den Tag ausdehnen, waschen sie sich, und zwar öfters warm, da es bei ihnen den größten Teil des Jahres über Winter ist. Danach frühstücken sie, wobei jeder seinen Stuhl und Tisch für sich hat. Dann gehen sie bewaffnet an ihre Geschäfte, ebensooft aber auch zu Gelagen. Tag und Nacht durchzutrinken ist für niemand eine Schande...

23. Als Getränk dient den Germanen ein Saft aus Gerste oder Weizen, der ähnlich wie Wein vergoren ist. Die in der Nähe des Rheins wohnen, verschaffen sich auch echten Wein. Die Kost ist einfach: wildwachsendes Obst, frisches Wildbret oder geronnene Milch. Mit Speisen ohne feine Zubereitung oder Gewürze stillen sie den Hunger...

24. Von Schaustellungen kennen die Germanen nur eine einzige Art, und bei jeder festlichen Zusammenkunft ist es die gleiche. Nackte Jünglinge, für die das eine Freude und Kurzweil ist, springen zwischen gezückten Schwertern und drohend erhobenen Framen hindurch. ...
 Dem Würfelspiel huldigen sie merkwürdigerweise in voller Nüchternheit, als wenn es sich um ein ernshaftes Geschäft handelte. Dabei sind sie in bezug auf Gewinn oder Verlust von einer so blinden Leidenschaft besessen, daß sie, wenn sie alles andere verspielt haben, mit dem letzten eintscheidenden Wurfe um ihre Freiheit und um ihre eigene Person kämpfen. Wer verliert, geht willig in die Knechtschaft; ...

7. Die Frauen betrachtet ein jeder als die heiligsten Zeugen, und auf ihre Anerkennung legt er den höchsten Wert. Zur Mutter,  zur Gattin kommen sie mit ihren Wunden, und ohne Zagen  zählen und untersuchen diese Schläge und Stiche; auch bringen sie den Kämpfenden Speise und feuern sie an.

8. Manche Schlachtreihe, die schon ins Wanken geraten war und zurückflutete, brachten die Frauen ... wieder zum Stehen: Sie  bestürmten die Krieger unablässig mit Bitten, hielten ihnen ihre entblößte Brust entgegen und wiesen auf die unmittelbar drohende Gefangenschaft hin, die die Germanen viel leidenschaftlicher für ihre Frauen fürchten. ... Den Frauen ist sogar ... eine gewisse Heiligkeit und Sehergabe eigen, und deshalb achten sie ihren Rat und hören auf ihren Bescheid.

19.So lebt die Frau in wohlbehütetet Sittsamkeit, nicht verdorben durch lüsterne Schauspiele oder verführerische Gelage. ... Daher kommt auch in einem so zahlreichen Volke nur ganz selten ein Ehebruch vor. Die Bestrafung erfolgt auf der Stelle und steht dem Manne zu. Vor den Augen der Verwandten schneidet er der Ehebrecherin das Haar ab, reißt ihr das Gewand herunter und prügelt sie durch das ganze Dorf. Einer Frau, die ihre Keuschheit preisgibt, wird nicht verziehen. ...
 Die Zahl der Geburten zu beschränken oder ein nach dem Erben geborenes Kind zu töten, gilt als Schandtat, und mehr vermögen dort gute Sitten als anderswo gute Gesetze.
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Über die Herkunft der Franken
(Sog. Fredegar, 4. Buch, cap. 2)

Von den Frankenkönigen, die vor alter Zeit gelebt haben, schreibt der heilige Hieronymus, und die Geschichte des Dichter Vergilius erzählt, zuerst sei Priamus König der Franken gewesen, als Troja durch die Ränke des Ulysses fiel, dann seien sie von dort ausgezogen und hätten später einen König mit Namen Friga gehabt, bis endlich eine Spaltung unter ihnen ausgebrochen sei und der eine Teil nach Mazedonien gegangen wäre, die anderen unter dem Könige Friga, die sich Frigier genannt hätten, aber Asien durchzogen hätten und sich am Ufer der Donau und des Weltmeeres (Mittelmeeres!) niedergelassen hätten. Dann teilten sie
sich von neuem, und ein Teil von ihnen zog unter dem Könige Francio mitten nach Europa hinein. Sie durchzogen Europa, ließen sich mit ihren Weibern und Kindern am Ufer des Rheins nieder und fingen nicht weit vom Rhein nach dem Muster von Troja an, eine Stadt zu bauen, die sie auch Troja nannten. Der Bau blieb aber unvollendet liegen. Die aber am Gestade der Donau zurückgeblieben waren, wählten sich einen König mit Namen Turchot und wurden nach ihm Turken genannt. Die anderen dagegen, die nach Francio Franken hießen, lebten lange Zeit hindurch unter Herzögen und beugten sich niemals unter die Herrschaft fremder Völker.
 

Die Abstammung des Sachsen nach Widukindi
(Corbeiensis rerum gestarum Saxonicarum libri tres I, cap 2.)

Zunächst will ich über Ursprung und Abstammung der gens wenig berichten, wobei ich in dieser Hinsicht fast allein der Sage folgen muß, da zu hohes Alter [der Überlieferung] beinahe alle Sicherheit ausschließt. Darüber [die Herkunft der Sachsen] gibt es verschiedene meinungen. Die einen glauben, daß die Sachsen von Dänen und Normannen abstammten, andere, wie ich selbst in meiner Jugend gehört habe, von den Griechen, da diese selbst die Sachsen für die Reste des Heeres halten, das dem großen Alexander gefolgt sei und sich nach dessen vorzeitigem Tode über die ganze Welt zerstreut habe. Übrigens kann man nicht daran zweifeln, daß sie ein alter und ehrwürdiger Stamm gewesen sind.
 
 

Jordanes, Über den Tod und die Begräbnisfeier Attilas (453 n. Chr.)
(Jordanes, Gotengeschichte. In: Geschichtliche Weltkunde 1. Hsg. von Wolfgang Hug, Verlag Moritz Diesterweg 1981)

Nach dem Bericht des Historikers Priskus hatte Attila kurz vor seinem Tod ein überaus schönes Mädchen, namens Ildiko, zu seiner Frau gemacht. Er besaß bereits - wie es bei den Hunnen Sitte ist - zahlreiche Weiber. Nachdem er nun beim Hochzeitsfest in übermäßiger Festfreude geschwelgt hatte und schließlich, von Wein und Schlaf überwältigt, dalag, bekam er einen Bluterguß...
 Als am nächsten Morgen - es war bereits spät am Tage - die Diener des Königs, Unheil ahnend, großen Lärm an seiner Tür machten und endlich eindrangen, fanden sie Attila tot daliegen, blutüberströmt, doch ohne irgendeine Wunde; neben ihm saß das Mädchen und barg weinend ihr Antlitz im Schleier. Da rauften sich die Männer, wie es bei diesem Volk Sitte ist, die Haare und entstellten ihre häßlichen Gesichter mit tiefen Wunden, damit der herrliche Kämpe nicht durch Weiberklage und -tränen, sondern durch Vergießen von Männerblut betrauert würde.
 Sein Leichnam wurde mitten im Lager in einem seidenen Zelt aufgebahrt, ein herrlicher und erhabener Anblick. Die besten Reiter des ganzen Volkes veranstalteten dort, wo er aufgebahrt lag, Umritte wie in einem Zirkus. Dabei priesen sie in einem Gesang seine Taten:

"Der Hunnen vornehmster König Attila,
Sproß des Mundzucus,
tapferster Völker Herr,
der mit vordem unerhörter Macht allein
der Skythen und Germanen Königswürden besaß,
des römischen Erdkreises doppeltes Reich
durch Raub der Städte schreckte, und
auf daß nicht zur Beute der Rest wurde,
durch Flehen erweicht jährlichen Tribut nahm,
und der, als er dies alles mit Glückes Hilfe getan,
nicht durch Feindes Wunde, nicht durch der Seinen Trug,
sondern in der Blüte seines Geschlechts, unter Freuden froh,
schmerzlos dahinging.
Wer mag das einen Tod heißen,
wo keiner Rache heischen kann?"

 Nachdem sie Attila mit solcherlei Klageliedern beweint hatten, feierten sie ein großes Leichenmahl, eine Strava, wie sie es in ihrer Sprache nennen. Dabei mischten sie, von einer Übertreibung in die andere fallend, Totenklagen mit Freudenäußerungen, bis sie endlich im Schutz der Nacht den Leichnam in die Erde senkten. Der erste Sarg war aus Gold, der zweite aus Silber und der dritte aus hartem Eisen. Dadurch wollten sie symbolisch andeuten, daß dem mächtigsten Herrscher die drei gebührten: Eisen, weil er die Völker unterworfen, Gold und Silber, weil er von beiden Kaiserreichen - Ostrom und Westrom - Ehren empfangen habe. Auch gaben sie ihm zahlreiche, von Feinden erbeutete Waffen mit, kostbare, mit vielerlei glänzenden Juwelen besetzte Brustpanzer und mannigfache Ehrezeichen, wie sie ein Herrscher besitzt. Damit jedoch so viele und große Reichtümer vor der Neugier der Menschen geschützt blieben, entlohnten sie diejenigen, die mit der Grablegung betraut gewesen waren, schimpflich: sie ermordeten sie kurzerhand. So raffte ein rascher Tod die Totengräber zugleich mit dem Toten dahin.
 
 

III.

Die Merowinger-Zeit

 

Der Untergang Roms

1.

"Das Weströmische Reich hatte aufgehört zu bestehen, weil es seinen äußeren Feinden unterlegen war. Es hätte sich dieser Feinde aber erwehren können, wäre es im Inneren nicht so schwach gewesen. Doch als die tödlichen Schläge fielen, hatte die Regierung nicht mehr die Kraft, sie abzuwehren. Das lag daran, daß Italien und die ganze westliche Welt im Innern hoffnungslos zerrissen waren. Diese Uneinigkeit trat sehr verschieden zutage. Und jede ihrer Erscheinungen hatte schon für sich allein katastrophale Folgen. Zusammengenommen machten sie den Widerstand gegen die Bedrohungen von außen unmöglich."

(Grant, Michael; Die Geschichte Roms. Von den Etruskern bis zum Untergang des Römischen Reiches. Bastei-Lübbe Taschenbuch Band 64084, Bergisch Gladbach 1986, S. 469)
 

2.

"Die Geschichte des Seßhaftwerdens der barbarischen Völker im Westen im 5. Jahrhundert besteht aus Paradoxien: Plünderungen, Zerstörungen, Massaker auf der einen Seite, Assimilation der Sieger, die den institutionellen Rahmen und die Sitten einer höheren Zivilisation übernehmen, auf der anderen;  militärische und politische Ohnmacht der überfallenen Bevölkerung und ihre aktive Zusammenarbeit mit den Barbaren in neuen Staats- und Regierungsformen; heftige Gegensätze und friedliche Koexistenz der Kirchen. Es ist eine revolutionäre Situation: alle alten Werte der Zivilisation scheinen in Frage gestellt. Die Lösung der Krise bringen die Barbarenkönige, indem sie auf die jahrhundertealte Erfahrung des Römischen Reiches zurückgreifen ...

 Was immer die vielfältigen, tiefen und mitunter fernen Ursachen des Zusammenbruchs des Weströmischen Reiches gewesen sein mögen:
damit es so weit kommen konnte, mußten die führenden Gewalten - Kaiser, Bischöfe, Generale, Verwaltungschefs - den Barbaren freie Hand gelassen und sie durch die eigene Schwäche, die Bannflüche, die Ausflüchte, die Kompromisse, das Zögern, die Feigheit und vor allem durch das innere Zerwürfnis ermutigt haben. Denkt man an das Mißverhältnis der Zahlen im Lichte dieser Situation, so zeigt sich, daß der Tod des Reiches nicht der Tod der römischen Zivilisation. ...
 Was gestorben war, war eine politische Herrschaft, die universal sein wollte, die aber nur die durch ihre Organisation geschützten Kollektivorganismen zur Kenntnis nahm, ohne sie einzuschmelzen. Sie machte für diese Kollektivorganismen Gesetze, sie verwaltete sie, aber sie sperrte sich von ihnen mit Barrieren ab, die weniger der Verteidigung dienten als dazu, eine dünkelhafte Selbstisolierung zu verewigen."

(Seston, William: Verteil des Römischen Reiches im Westen. Die Völkerwanderung. In: Propyläen Weltgeschichte. Bd. 4.  Propyläen Verlag Berlin-Frankfurt a. M. 1991, S. 602-603)
 

3.

"Die Germanen kamen nicht in der Absicht, das Römische Reich zu zerstören. Sie suchten Land zur Ansiedelung und wollten die Vorteile der überlegenen römischen Kultur genießen. Aber diese Tatsache war zunächst ohne größere Bedeutung. Die Freisetzung der Gewalt verhinderte den friedlichen Ausgleich. Die römische Staatsmacht versagte in allergrößtem Ausmaß. Man kann dafür viele Gründe nennen, etwa die schwierige militärische Lage, die innenpolitische Zersplitterung, die Aushöhlung der Gesellschaft durch die staatliche Zwangswirtschaft, das Versagen der Führungsschicht, die Apathie der Bevölkerung. Kaum mehr als 15 000 germanische Krieger "eroberten" Gallien, in dem etwa 20 Millionen Menschen lebten. Jeder Erklärungsversuch dramatisiert, wenn er für sich betrachtet wird, das Geschehen. Schlagworte wie "Niedergang" oder "Zerfall" zeichnen ein einseitiges Bild. Das Imperium Romanum bestand als Reich von Byzanz noch über tausend Jahre weiter. Antike Kultur und auch spätrömischer Absolutismus lebten in der römischen Kirche fort. Neben der klassischen Literatur und dem römischen Recht zählt die christliche Religion mit zu dem Erbe, das die Auflösung des Weströmischen Reiches überdauerte."

(Weltgeschichte in 14 Bänden. Hrsg. v. Heinrich Pleticha. Band 3: Rom und der Osten, Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1987, S. 251)
 

4.

Nicht der Einfall der Germanen in das Römische Reich, nicht die Völkerwanderung hat der Antike ein Ende bereitet. Die germanischen Völker auf römischem Reichsboden hatten weder die Absicht, das Reich zu zerstören, noch haben sie es getan. Die für die römische Welt grundlegende soziale und wirtschaftliche Struktur überstand den Einbruch der Germanen, die in den von ihnen besetzten Gebieten eine Minderheit blieben, und die germanischen Könige erkannten die Hoheit des byzantinischen Kaisers an. ("Man könnte etwa sagen, der alte Palazzo sei in Wohnungen aufgeteilt worden, bestehe aber als Bauwerk weiter." - Pirenne, Mahomet et Charlemagne. Hübinger, 1939)
 Erst der Ansturm der Araber brachte die grundlegende Änderung. Er verschloß das Mittelmeer, das bisher seine Rolle als Mittelpunkt der um es gelagerten Welt weitergespielt hatte, er schuf unübersteigliche Schranken zwischen den Völkern, er machte dem bisher wenig gestörten Seehandel ein Ende. Das bewirkte den Zusammenbruch der in antiken Formen betriebenen Wirtschaft, führte das Ende des Geldverkehrs herbei und brachte den Untrgang der auch in den germanischen Staaten und in den Frankenreichen weiterbestehenden Laienzivilisation, die als städtische Erscheinung verfallen mußte, als die Städte selbst untergingen und bedeutungslos wurden.
 
 

Die fränkische Geschichte als die Vorstufe der deutschen

Eine unentbehrliche Voraussetzung für das Verständnis der deutschen Geschichte im Mittelalter bildet die Geschichte der Franken, wenn natürlich auch nichts falscher wäre als eine Gleichsetzung der Begriffe deutsch und fränkisch. Weder Karl der Große noch gar Chlodovech waren Deutsche, weil es ganz einfach ein deutsches Volk in dem Sinne einer politischen oder kulturellen Selbständigkeit noch gar nicht gab. Die Verhältnisse östlich des Rheins waren von denen in den Kerngebieten der Franken außerordentlich unterschieden, und man kann auch nicht Zustände, wie sie uns Gregor von Tours, der bedeutendste Historiker der Frankenzeit, schildert, bei den rechtsrheinischen Germanen anzutreffen erwarten. Aber das deutsche Königtum, das im 10. Jahrhundert entsteht, ist eine unmittelbare Weiterführung des karolingischen, was übrigens auch für das französische Königtum gilt.
 So ist das Königtum mit all seiner Bedeutung die eine Klammer, die sich um deutsche und Frankengeschichte legt, die andere ist das Christentum. Denn erst durch die Aufnahme des Christentums und durch die nun notwendig werdende Verarbeitung ursprünglich ganz fremden Kulturgutes werden aus den Germanen Deutsche. Diese Entwicklung aber wird den Germanen östlich des Rheins nicht nur zum großen Teile von Franken aus gebracht (neben den Franken haben die Angelsachsen an der deutschen Mission einen sehr bedeutenden Anteil!), sondern vor allem geschieht in Frankreich ähnliches, wo im Nebeneinander germanischer Heiden und christlicher Galloromanen das Christentum siegt und die Franken in ihrem Wesen und ihrem Selbstverständnis auf das Tiefste beeinflußt ...
 

Brief des Bischofs Nicetius von Trier an Königin Chlodosuinda, vor 568


Du hast gehört, wie deine selige Großmutter Chrodechilde in das Reich der Franken kam und wie sie den Herrn Chlodovech zum katholischen Gesetz bekehrte; und da er ein höchst kluger Mann war, so wollte er nicht ruhen, bis er die Wahrheit erkannt. Als er die Richtigkeit der katholischen Lehre bewährt fand, fiel er demütig an der Schwelle der heiligen Maria nieder und gelobte, sich unverweilt taufen zu lassen. Wieviel er nach seiner Taufe gegen die Ketzer Alarich und Gundobad ausrichtete, hast du gehört.
 
 

Clodovech besiegt Alarich mit der Hilfe der Kirche
(Gregor von Tours, Historiarum libri decem, II. cap. 35-37)


Als nun Alarich, der Gotenkönig, sah, daß König Chlodovech ohne Unterlaß die Völker bekriegte und sich unterwarf, schickte er Gesandte an ihn uns sprach: "Wenn es meinem Bruder beliebt, so wäre es der Wunsch meines Herzens, daß wir uns einmal sehen, so Gott will." Chlodovech aber lehnte das nicht ab und kam zu ihm. Sie trafen sich darauf auf der Loire-Insel bei Amboise im Gebiet von Tours, sprachen, aßen und tranken miteinander, gelobten sich Freundschaft und schieden dann in Frieden.
 Viele wünschten schon damals in allen gallischen Landen von ganzem Herzen, die Franken zu Herren zu haben.
 So kam es, daß auch der Bischof von Rodez Quintianus um dieser Sache willen aus seiner Stadt vertrieben wurde. Man warf ihm nämlich vor: "Du wünschest, daß die Franken dieses Land besitzen und beherrschen". Und wenige Tage danach erhob sich ein Streit zwischen ihm und den Bürgern, und auch die Goten, die in der Stadt wohnten, schöpften Verdacht, weil die Bürger ihm vorwarfen, er wolle sie unter die Herrschaft der Franken bringen, und sie faßten den Entschluß, ihn mit dem Schwerte zu töten. Als dies dem Manne Gottes gemeldet ward, erhob er sich bei Nacht mit den getreuesten seiner Diener, verließ Rodez und kam nach Clermont ...
 Es sprach aber König Chlodovech zu den Seinigen: "Es kümmert mich sehr, daß diese Arianer noch einen Teil Galliens besitzen. Laßt uns mit Gottes Beistand aufbrechen, sie besiegen und dies Land in unsere Gewalt bringen." Und da allen diese Rede wohl gefallen hatte, brach er mit seinem Heere auf und zog nach Poitiers. Dort hielt Alarich sich damals auf. Dieweil aber ein Teil des Heeres durch das Gebiet von Tours zog, erließ er aus Verehrung gegen dem heiligen Martinus einen Befehl, niemand solle aus dieser Gegend etwas anderes nehmen als Gras zum Futter und Wasser. Es fand aber einer von seinem Heere bei einem armen Manne Heu und sprach: "Hat nicht der König befohlen, wir sollten Gras nehmen, aber nichts anderes? Das aber ist ja Gras. Wir werden also des Königs Gebot nicht überschreiten, wenn wir es nehmen." Da er dem armen Manne aber Leid antat und ihm mit Gewalt Heu nahm, kam die Sache vor den König. Der hieb ihn schneller mit dem Schwerte nieder als man es sagt und sprach: "Wie können wir auf  Sieg hoffen, wenn wir den heiligen Martinus erzürnen?" ...
 Der König aber sandte Boten nach der Kirche des Heiligen und sprach: "Gehet, vielleicht empfangt ihr ein Vorzeichen des Siegs in jenem heiligen Tempel." ... Die Diener eilten von dannen, und als sie nach Befehl des Königs zu der Stelle kamen und in die heilige Kirche traten, stimmte von ungefähr der Vorsänger das Lied an: "Du kannst mich rüsten mit Stärke zum Streit, du kannst unter mich werfen, die sich wider mich setzen. Du gibst mir meine Feinde in die Flucht, daß ich meine Hasser verstöre." Als sie den Lobgesang hörten, sagten sie dem Herrn Dank, versprachen dem heiligen Bekenner Weihgeschenke und verkündeten es froh dem Könige. Als dieser darauf mit seinem Heere zum Viennefluß kam, wußte er durchaus keinen Rat, wo er übersetzen sollte. Denn der Fluß war vom Regen hoch angeschwollen. Und in der Nacht betete er zum Herrn, daß er ihm eine Furt zeigen möchte, wo er hindurchgehen könne; da kam in der Frühe eine Hirschkuh von wunderbarer Größe herbei und ging vor ihren Augen auf Gottes Geheiß durch das Wasser, und er sah, daß, wo sie hindurchwatete, das Heer übersetzen könne ...
 

Der Prolog  aus der Lex Salica 
(aus dem 8 Jahrhundert)

Der Franken erlauchtes Volk,
durch Gott den Schöpfer begründet,
tapfer in Waffen,
fest im Friedensbund,
tiefgründig im Rat, körperlich
edel, von unversehrter
Reinheit, erlesener Gestalt,
kühn, rasch und ungestüm,
(jüngst) zum katholischen Glauben bekehrt,
frei von Ketzern, suchte,
während es noch am völkischen (Brauch) festhielt,
auf Eingebung Gottes,
nach dem Schlüssel der Weisheit,
strebte dem Grad seiner Sitte
gemäß nach Gerechtigkeit,
bewahrte Frömmigkeit.

Aus der Lex Salica, der Rechtsordnung der Merowinger

Bestimmungen über Diebstahl

Von Schweinediebstählen

§ 1. Wenn einer ein saugendes Ferkel aus dem ersten oder aus dem mittleren Gehege - gerichtlich "Gehege-Galt", "Spanferkel" genannt - stiehlt und es ihm nachgewiesen wird, werde er (ein Großdutzend) sind 120 Pfennige, die machen 3 Schillinge zu schulden verurteilt.

§ 5. Wenn einer ein Mutterschwein - gerichtlich "Nähr-Galt" genannt - bis zum Verwerfen schlägt (und es ihm nachgewiesen wird) werde er 280 Pfennige, die machen 7 Schillinge (außer Wert und Weigerungsgeld) zu schulden verurteilt.

§ 14. Wenn einer einen Eber - gerichtlich "Keiler" genannt - stiehlt werde er (dem es nachgewiesen wird) 700 Pfennige, die machen 17 1/4 Schillinge zu schulden verurteilt.

Von Hundediebstählen

§ 1. Wenn einer einen abgerichtetetn Spürhund stiehlt - gerichtlich "Mannbuße" genannt -, werde er (dem er nachgewiesen wird) 600 Pfennige, die machen 15 Schillinge (außer Wert und Weigerungsgeld) zu schulden verurteilt.

§ 4. Wenn einer einen Hirtenhund (stiehlt oder) tötet - gerichtlich "Mannbuße" (bzw.) "Knechts-Hund" genannt -, werde er (dem es nachgewiesen wird) 120 Pfennige, die machen 3 Schillinge außer Wert und Weigerungsgeld zu zahlen verurteilt.
 

Bestimmungen über verschiedene Gewaltverbrechen

14. Von Überfällen oder Ausplünderungen

§ 1. Wenn einer einen freien Mann durch Überfall ausplündert und es ihm nachgewiesen wird - gerichtlich "Beraubung" genannt - werde er 2500 Pfennige, die machen 62 1/2 Schillinge zu schulden verurteilt.

§ 2. Wenn aber ein Röm(isch)er (Mann) einen germanischen Salfranken ausplündert und kein sicherer Beweis ist, reinige er sich durch 25 Schwurhelfer, jedoch zur Hälfte Ausgewählte; wenn er Schwurhelfer nicht finden kann, gehe er entweder zur Kesselprobe oder (ist den oben umschriebenen Anspruch zu beobachten übereingekommen).

§ 3. Wenn aber ein Franke einen Römer ausplündert - gerichtlich "Beraubung" genannt - und kein sicherer Beweis ist, reinige er sich durch 20 Schwurhelfer, jedoch zur Hälfte Ausgewählte, wenn er Schwurhelfer nicht finden kann, werde er (wenn es nachgewiesen wird) 1200 Pfennige, die machen 30 Schillinge zu schulden verurteilt.
 

24. Von Totschlägen an Unmündigen (und Weibern)

§ 1. Wenn einer einen (freien) Knaben unter 12 Jahren bis zum vollendeten zwölften tötet - gerichtlich "Manngeld" genannt -, werde er, dem es nachgewiesen wird, 24 000 Pfennige, die machen 600 Schillinge zu schulden verurteilt.

§ 8. Wenn einer eine freie Frau, nachdem sie Kinder zu haben begonnen hat, (wer sie) tötet - gerichtlich "Frauengeld" genannt -, werde er 24 000 Pfennige, die machen 600 Schillinge zu schulden verurteilt.

§ 9. Nachdem sie keine Kinder (mehr) haben kann - gerichtlich "Frauengeld" genannt -, werde, wer sie tötet 8 000 Pfennige, die machen 200 Schillinge zu schulden verurteilt.

41. Von Totschlägen an Freien

§ 9. Wenn aber ein römischer Mann, Grundbesitzer (und nicht Tischgenosse des Königs gewesen) getötet wird, werde, der ihn getötet zu haben erwiesen wird, - gerichtlich "Welschenmanngeld" genannt - 4 000 Pfennige, die machen 100 Schillinge zu schulden verurteilt.

45. Von Zuziehenden

§ 1. Wenn ein Mann zu einem andern in ein Gehöft zuziehen will und einer oder einige von denen, die in dem Gehöft wohnen, ihn (dann) aufnehmen will, und wenn einer (unter ihnen) vorhanden ist, der widerspricht, habe er keine Erlaubnis, ebendort zuzuziehen.

§ 4. Wenn aber einer hinzuzieht und ihm binnen 12 Monaten von keinem protestiert wird, wohne dieser, wo er hinzuzog, sicher wie auch die anderen Nachbarn (wohnen).

58. Vom Erdwurf

§ 1. Wenn einer einen Mann tötet und, nach Gabe des ganzen Vermögens, nichts hat, wovon er (büße, daß er) die ganze Gesetzsbuße erfülle, stelle er 12 Schwurhelfer, daß er weder über der Erde noch unter der Erde mehr an Vermögen habe, als er bereits leistete.

§ 2. Und nachher so muß er in seine Behausung eintreten und von den vier Ecken (Staub der) Erde in den Faust sammeln, und so muß er nachher am Türpfosten, d.h. auf der Schwelle stehen, in die Behausung hinein zurückschauend, und so mit der linken Hand von jener Erde über seine Schultern auf denjenigen werfen, den er als nächsten Verwandten hat.

§ 3. Wenn aber bereits Vater und Brüder gezahlt haben, dann muß er auf seine (Söhne) jene Erde werfen, d.h. auf drei von der Sippschaft der Mutter (und auf drei von der Sippschaft des Vaters), die die nächsten sind.

§ 4. Und nachher so muß er im Hemd, ungegürtet und unbeschuht, einen Pfahl in Hand über den Zaun springen, daß für die Hälfte, wieviel der Buße mangelt oder wieviel das Gesetz hinaussetzt, auch jene drei (von der mütterlichen Sippschaft) zahlen sollen; dies müssen auch jene anderen, die von der väterlichen Sippschaft stammen, ebenso tun.

§ 6. Wenn nun aber auch dieser nichts hat, wovon er die ganze Gesetzbuße auszahle, dann muß jenen, der den Totschlag beging, der, der ihn bei seiner Treue hält, im Thing stellen, und nachher so sollen sie ihn auf vier Thinge auf ihre Treue nehmen. Und wenn ihn keiner zur Buße auf Treue nimmt, d. h. daß er ihn wegen (dessen) löse, was er nicht ausgezahlt hat, (dann büße er mit seinem Leben).
 

Bestimmungen über Juden


Kein Jude nehme es sich gegenüber der Kirche Gottes heraus, irgend erwas von einem Christen als Pfand oder als Bezahlung für eine Schuld an sich zu bringen. Nimmt sich ein Jude in Gold oder in Silber oder auch anderweitig solches heraus - nie möge es geschehen! - so verliere er sein ganzes Vermögen, und man hacke ihm die rechte hand ab.
 Kein Jude wage es, einen Christen in pfandrechtliche Schuldknechtschaft von einem Juden oder einem anderen Christen zu pressen, auf daß dieser nicht in seinem Stand gemindert werde. Nimmt sich ein Jude solches heraus, so leiste er nach seinem Gesetz Schadenersatz und verliere den Schuldanspruch und das Pfand zugleich.
 Kein Jude wage es, Geld in seinem Hause aufzubewahren oder mit Wein, Getreide oder sonst etwas Handel zu treiben. Findet man dergleichen bei ihm, so werde ihm seine Habe weggenommen, und er werde in den Kerker geworfen, bis er uns zur Aburteilung vorgeführt wird.
 Hat ein Jude gegen einen Juden eine Streitsache, so verteidige er sich nach seinem Gesetze. Hat er etwas gegen einen Christen, so reinige sich, fall es nötig ist, der Christ mit geeigneten Zeugen durch einen Eid über Heiligenreliquien oder durch ein Gottesurteil mit glühendem Eisen. Dem Juden aber werde ein Kranz aus Dornen um den Hals gelegt, seine Knie werden gefesselt, während er steht, und dann werde ihm eine fünf Ellen lange Rute, die stark mit Dornen besetzt ist, mit aller Gewalt zwischen den Oberschenkeln hindurchgezogen, bis er seinen Eid beendet hat. Kommt er unverletzt davon, so hat er sich gereinigt. Wird ein Jude eines Vergehens gegen ein christliches Gesetz oder einen Christen überführt, so werde er wie ein Verwandtenmörder in einen Sack genäht und in tiefes Wasser geworfen oder verbrannt.
 

Das Frankenreich von Clodovech und Byzanz
(Gregor von Tours, Historium libri decem, II. cap. 38)

Damals erhielt er vom Kaiser Anastasius ein Patent als Konsul und legte in der Kirche des heiligen Martinus den Purpurrock und Mantel an und schmückte sein Haupt mit einem Diadem. Dann bestieg er ein Pferd und streute unter das anwesende Volk mit eigener Hand Gold und Silber auf dem ganzen Wege von der Pforte der Vorhalle bis zu der Bischofskirche der Stadt mit der größten Freigiebigkeit aus; und von diesem Tage an wurde er Konsul oder Augustus genannt. Von Tours ging Chlodovech nach Paris und machte dies zum Sitz seiner Herrschaft.
 

Das Karfreitagsgebet, vor dem Ende der Merowingerzeit entstanden


Lasset uns auch beten für unseren allerchristlichsten Kaiser, daß unser Herr und Gott alle barbarischen Nationen unter ihn beuge und uns dauernden Frieden gebe. Allmächtiger, ewiger Gott, der du in deiner Hand alle Macht und alles Recht der Herrschaft hältst, blicke gnädig auf das römische Reich, auf daß die Heidenvölker, die auf ihre Wildheit pochen, durch deine gewaltige Rechte niedergedrückt werden.
 

Die Merowinger in der Kritik der karolingischen Geschichtsschreibung
(Einhard, Vita Karoli Magni, cap. 1)

Das Geschlecht der Merowinger, aus dem die Franken ihre Könige zu wählen pflegten, endete nach der gewöhnlichen Annahme mit König Hilderich, der auf Befehl des römischen Papstes Stephan (irrtümlich: Zacharias) abgesetzt, geschoren und ins Kloster geschickt wurde. Aber obwohl es erst mit ihm ausgestorben zu sein scheinen könnte, war es doch schon längst ohne alle Lebenskraft und hatte außer dem eitlen Königstitel nichts Ruhmvolles an sich; denn die Macht und die Gewalt der Regierung waren in den Händen der Pfalzvorsteher, die Hausmeier hießen und denen die ganze Regierung oblag.
Dem König blieb nichts übrig, als, zufrieden mit dem bloßen Königsnamen, mit langem Haupthaar und ungeschorenem Bart auf dem Throne zu sitzen und den Herrscher zu spielen, die von überall herkommenden Gesandten anzuhören und ihnen bei ihrem Abgange die ihm eingelernten oder anbefohlenen Antworten wie aus eigener Machtvollkommenheit zu erteilen, da er außer dem nutzlosen Königstitel und einem unsicheren Unterhalt, den ihm der Hausmeier nach Gutdünken zumaß, nur noch ein einziges, noch dazu sehr wenig einträgliches Hofgut zu eigen besaß, auf dem er ein Wohnhaus hatte und Knechte in geringer Zahl, die ihm daraus das Notwendige lieferten und ihm dienten. Überall, wohin er sich begeben mußte, fuhr er auf einem Wagen, den ein Joch Ochsen zog und ein Rinderhirt nach Bauernart lenkte.
 So fuhr er nach dem Palast, so zu der öffentlichen Volksgemeinde, die jährlich zum Nutzen des Volkes tagte, und so kehrte er dann wieder nach Hause zurück. Die Staatsverwaltung aber und alles, was im Inneren oder nach außen zu tun oder zu ordnen war, besorgte der Hausmeier.
 

Willibald, Bonifatius fällt die Donareiche (um 724)
(Willibald, Leben des Bonifatius. Zitiert nach: Geschichtliche Weltkunde 1. Hsg. von Wolfgang Hug, Verlag Moritz Diesterweg 1981)


Damals aber empfingen viele Hessen, die den katholischen Glauben angenommen und durch die siebenfältige Gnade des Geistes gestärkt waren, die Handauflegung; andere aber, deren Geist noch nicht erstarkt, verweigerten des reinen Glaubens unverletzbare Wahrheiten zu empfangen; einige auch opferten heimlich Bäumen und Quellen, andere taten dies ganz offen; einige wiederum betrieben teils offen, teils im geheimen Seherei und Wahrsagerei, Losdeuten und Zauberwahn; andere dagegen befaßten sih mit Amuletten und Zeichendeuterei und pflegten die verschiedensten Opfergebräuche, andere dagegen, die schon gesunderen Sinnes ware und allem heidnischen Götzendienst entsagt hatten, taten nichts von alledem. Mit deren Rat und Hilfe unternahm er es, eine ungeheure Eiche, die mit ihrem alten heidnischen Namen die Jupitereiche genannt wurde, in einem Orte, der Gäsmere hieß, im Beisein der ihn umgebenden Knechte Gottes zu fällen. Als er nun in der Zuversicht seines standhaften Geistes den Baum zu fällen begonnen hatte, verwünschte ihn die große Menge der anwesenden Heiden als einen Feind ihrer Götter lebhaft in ihrem Innern.
 Als er jedoch nur ein wenig den Baum angehauen hatte, wurde sofort die gewaltige Masse der Eiche von höherem göttlichen Wehen geschüttelt und stürzte mit gebrochener Krone zur Erde, und wie durch höheren Winkes Kraft barst sie sofort in vier Teile, und vier ungeheuer große Strünke von gleicher Länge stellten sich, ohne daß die umstehenden Brüder etwas dazu durch Mitarbeit getan, dem Auge dar. Als dies die vorher fluchenden Heiden gesehen, wurden sie umgewandelt, ließen von ihrem früheren Lästern ab, priesen Gott und glaubten an ihn.
Als er dann alles solches vollendet und unter dem Beistand des Himmlischen durchgesetzt hatte, zog er sofort nach Thüringen weiter. Dort wandte er sich an die Stammältesten und die Fürsten des Volkes und brachte sie dazu, die Blindheit ihrer Unwissenheit abzutun und den schon früher empfangenen christlichen Glauben wieder anzunehmen...
 
 
 

IV.

Die Karolinger-Zeit

 

Kämpfe gegen die Araber im 7-8. Jh.

Im Jahre 634 begann der Islam seinen unaufhaltsamen Eroberungszug; 635 fällt Damaskus, 641 Alexandrien, 698 endgültig Karthago in die Hand der Araber, 711 stehen sie auf spanischem Boden, vernichten in der Schlacht bei Xeres de la Frontera des Westgotenreich und strömen über die Pyrenäen nach Gallien, während gegen Konstantinopel andere arabische Heere und Flotten anstürmten und 708 die Stadt in einer langen Belagerung bedrängten.
 Die siegreiche Verteidigung der Kaiserstadt im Osten, der Widerstand der Franken unter dem Hausmeier Karl Martell und die zähe Behauptung der Stellung auf Sizilien durch Byzanz bringen den arabischen Sturm schließlich zum Stehen.
 Während die Germanen, die den Westen des Reiches besetzt hatten, von der überlegenen antiken Kultur in bedeutendem Maße verändert und gewonnen wurden, so daß eine baldige Verschmelzung von Siegern und Besiegten eintrat, erwiesen sich die Araber als nicht assimilierbar. Die Ursache hierfür war weder ihre so viel höhere Menge - denn sie waren wohl anfangs kaum zahlreicher als die Germanen - noch etwa eine höhere eigene Kultur, sondern ausschließlich ihr Glaube, der ihnen die Unterwerfung, nicht die Bekehrung der Ungläubigen zur Aufgabe machte und sie von einer engeren Berührung mit den unterworfenen zunächst fernhielt.
 

Papst Gregor III. ruft die Hilfe Karl Martells an, 739
(Liber pontificalis Gregor III., ed. L. Duchesne I)


Zu den Zeiten dieses Papstes ward das Land der Römer unter die Gewalt der verruchten Langobarden und ihres Königs Liutprand gebracht. Dieser rückte vor Rom, schlug auf dem Nerofeld ein Lager auf, verheerte Campanien und ließ viele vornehme Römer nach langobardischer Weise scheren und kleiden. Da sandte der heilige Vater in seiner großen Bedrängnis den Bischof Anastasius und den Priester Sergius über die See ins Frankenland, wo damals Karl das Regiment führte, ließ diesem die Schlüssel zu dem Grab des heiligen Apostelfürsten Petrus überreichen und ihn bitten, Rom aus der Gewalt der Langobarden zu erretten.
 
 

Donatio Konstantini, eine der größten Fälschungen des Mittelalters, um 750

(Obwohl bereits die Kanzlei Ottos III. die Konstantinische Schenkung als Fälschung behandelte, stützte sich der Herrschaftsanspruch der Kirche seit der Mitte des 8. Jahrhunderts, als die Fälschung wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Hilfegesuch Stephans II. an Pippin entstanden war, auf die donatio.)

11. So wie uns die irdische Macht des Kaisers zukommt, so haben wir befohlen, daß ihre hochheilige römische Kirche voller Achtung geehrt und daß der hochheilige Stuhl Petri noch mehr als unsere kaiserliche Gewalt und unser nur irdischer Thron rühmlich verherrlicht werde, indem wir ihm verleihen die Macht , den Ehrenrang, die Kraft und die Ehrenbezeigungen, wie sie einem Kaiser zukommen.

12. Wir verordnen, daß er (der Bischof von Rom) die Obergewalt besitzen soll sowohl über die vier vorzüglichen Bischofssitze von Antiochia, Alexandria, Konstantinopel und Jerusalem als auch über alle Kirchen Gottes auf dem ganzen Erdkreise überhaupt. Der jeweilige Papst dieser hochheiligen römischen Kirche soll über alle Bischöfe in der ganzen Welt erhaben und ein Fürst über sie sein, und durch sein Urteil soll alles entschieden werden, was hinsichtlich der Verehrung Gottes und des Bestandes des christlichen Glaubens zu besorgen ist.

16. Aus Ehrfurcht vor dem heiligen Petrus dienen wir ihm als Reitknecht, indem wir die Zügel seines Pferdes halten.

17. Um die päpstliche Macht der kaiserlichen gleichzustellen, auf daß durch diese nicht die päpstliche Tiara verdunkelt, sondern im Gegenteil noch mehr als die irdischer Gewalt zukommende Würde und glanzvolle Macht geschmückt werde, - siehe, darum haben wir auch unseren Palast, wie wir schon gesagt haben, oder die zur Hauptstadt Rom und alle zu Italien beziehungsweise dem Abendland gehörenden Provinzen, Orte und St„dte dem mehrfach erwähnten, hochseligen Oberpriester, unserem Vater Silvester, dem allgemeinen Papste, übertragen und seiner oder seiner Nachfolger Gewalt und Botmäßigkeit überlassen.
 
 

Reichsannalen, Die Kaiserkrönung Karls des Großen, 800
(Reichsannalen. Zitiert nach: Geschichtliche Weltkunde 1. Hsg. von Wolfgang Hug, Verlag Diesterweg 1981)

Anfangs August kam er nach Mainz und ordnete einen Heereszug nach Italien an, und nachdem der von hier aufgebrochen war, kam er nach Ravenna. Hier befahl er das Unternehmen gegen Benevent und nach einer Pause von 7 Tagen wandte er sich gegen Rom und ließ sein Heer unter Führung seines Sohnes Pippin zum Beutemachen in das Gebiet von Benevent einrücken. Als er aber nach Rom kam, zog ihm der Papst Leo mit den Römern tags zuvor nach Mentana 12 Meilen von der Stadt entgegen und empfing ihn mit höchster Demut und größten Ehren, und nachdem er mit ihm an dem genannten Orte gespeist hatte, zog er sofort ihm voraus in die Stadt. ...
Und die Jahreszahl änderte sich in 801.
Als der König gerade am hl. Weihnachtstag sich vom Gebet vor dem Grab des sel. Apostels Petrus zur Messe erhob, setzte ihm Papst Leo eine Krone aufs Haupt und das ganze Römervolk rief dazu: "Dem erhabenen Karl, dem von Gott gekrönten großen und friedenbringenden Kaiser der Römer Leben und Sieg!" Und nach den lobenden Zurufen wurde er von Papst nach der Sitte der alten Kaiser durch Kniefall geeehrt und fortan, unter Weglassung des Titels Patricius, Kaiser und Augustus genannt.
 

Einhard: Die Persönlichkeit Karls des Großen
(Einhard, Leben Karls des Großen. Zitiert nach: Geschichtliche Weltkunde 1. Hsg. von Wolfgang Hug, Verlag Moritz Diesterweg 1981)

22. Er war von breitem und kräftigem Körperbau, hervorragender Größe, die jedoch das richtige Maß nicht überschritt - denn seine Länge betrug, wie man weiß, sieben seiner Füße -, das Oberteil seines Kopfes war rund, seine Augen sehr groß und lebhaft, die Nase ging etwas über das Mittelmaß, er hatte schönes graues Haar und ein freundliches, heiteres Gesicht. So bot seine Gestalt im Stehen wie im Sitzen eine höchst würdige und stattliche Erscheinung... Beständig übte er sich im Reiten und Jagen, wie es die Sitte seines Volkes war: man wird ja nicht leicht auf Erden ein Volk finden, das sich in dieser Kunst mit den Franken messen könnte. Sehr angenehm waren ihm auch die Dämpfe warmer Quellen; er übte sich fleißig im Schwimmen und verstand das so trefflich, daß man ihm keinen darin vorziehen konnte. Darum erbaute er sich auch zu Aachen einen Palast und wohnte in seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Tode beständig darin. Und er lud nicht bloß seine Söhne, sondern auch die Vornehmen und seine Freunde, nicht selten auch sein Gefolge und seine Leibwächter zum Bade, so daß bisweilen hundert und mehr Menschen mit ihm badeten.

23. Die Kleidung, die er trug, war die seiner Väter, d.h. die fränkische. Auf dem Leib trug er ein leinenes Hemd und leinene Unterhosen; darüber ein Wams, das mit einem seidenen Streifen verbrämt war, und Hosen; sodann bedeckte er die Beine mit Binden und die Füße mit Schuhen, und schützte mit einem aus Fischotter- oder Zobelpelz verfertigten Rock im Winter Schultern und Brust; dazu trug er einen blauen Mantel und stets ein Schwert, dessen Griff und Gehenk von Gold oder Silber war.

24. ... Im Genuß des Weins und jeglichen Getränks war er so mäßig, daß er beim Essen selten mehr als dreimal trank. Im Sommer nahm er nach der Mahlzeit etwas Obst zu sich und trank einmal, dann legte er Kleider und Schuhe ab, wie er es bei Nacht tat, und ruhte zwei bis drei Stunden. Nachts unterbrach er den Schlaf vier- oder fünfmal, indem er nicht bloß aufwachte, sondern auch aufstand. Während er Schuhe und Kleider anzog, ließ er nicht allein seine Freunde vor, sondern wenn der Pfalzgraf von einem Rechtsstreite sprach, der nicht ohne seinen Ausspruch entschieden werden könne, so hieß er die streitenden Parteien sofort hereinführen...

25. Reich und überströmend floß ihm die Rede vom Munde, und was er wollte, konnte er leicht und klar ausdrücken. Es genügte ihm jedoch nicht an seiner Muttersprache, sondern er widmete sich auch der Erlernung fremder Sprachen: darunter brachte er es im Lateinischen so weit, daß er es wie seine Muttersprache redete... Auch zu schreiben versuchte er und pflegte deswegen Tafel und Büchlein im Bett unter dem Kopfkissen bei sich zu führen... Doch hatte er mit seinem verkehrten und zu spät angefangenen Bemühen wenig Erfolg...

19. Die Erziehung seiner Kinder richtete er so ein, daß Söhne wie Töchter zuerst in den Wissenschaften unterrichtet wurden, auf deren Erlernung auch er selbst seinen Fleiß verwandte. Dann mußten die Söhne, sobald es nur das Alter erlaubte, nach der Sitte der Franken reiten, sich in den Waffen und auf der Jagd üben, die Töchter aber sich mit Wollenarbeit abgeben und mit Spinnrocken und Spindel beschäftigen... Um die Erziehung seiner Söhne und Töchter war er so besorgt, daß er zu Hause niemals ohne sie speiste, nie ohne sie eine Reise machte... Den Tod seiner Söhne und der Tochter trug er mit weniger Fassung als der hohe Sinn, der ihm eigen war, erwarten ließ: die herzliche Liebe, die ihn nicht minder auszeichnete, rührte ihn zu Tränen. Auch bei der Nachricht von des römischen Papstes Hadrians Tod, der hoch in seiner Freundschaft stand, weinte er so, als hätte er einen Bruder oder den teuersten Sohn verloren.
 

Karl der Große regelt das Leben am Hofe, 804
(Capitulare de disciplina palatii Aquisgranensis)

1. Jeder Palastbeamte soll unter seinen Untergebenen und dann bei den ihm Gleichgestellten strenge Untersuchungen anstellen, ob sich unter ihnen oder unter seinen Untergebenen ein kranker Mensch oder eine heimliche Dirne befinde. Er hat dafür zu sorgen, daß ein solcher Mann oder eine solche Frau, falls derartige Menschen entdeckt werden sollten, nicht entfliehen kann, bis wir unterrichtet sind. Und wenn der Mensch, de einen solchen Mann oder eine solche Frau bei sich verborgen hat, sich nicht bessern will, werde er in unserem Palast unter Bewachung gesetzt ...

3. Wir wollen und befehlen, daß keiner unserer Palastbeamten einen wegen Diebstahls oder Mordes oder Ehebruchs oder irgendeines anderen Verbrechens zum Palaste befohlenen Menschen, der sich hier verbergen möchte, aufzunehmen versucht. Wenn aber ein freier Mann diese Bestimmungen übertreten sollte und einen solchen Menschen bei sich aufnähme, dann soll er wissen, daß er dann den bei ihm gefundenen Mann auf seinem Nacken zuerst um den Palast herum tragen müßte, dann aber zu dem Gefängnis, in welches der Übeltäter gesteckt werden soll ... Entsprechend ordnen wir hinsichtlich der Lüstlinge und der Dirnen an, daß sie von denen, bei denen sie angetroffen werden, zum Marktplatz getragen werden, wo diese selbst gegeißelt werden sollen. Und wenn jemand das nicht tun will, dann befehlen wir, daß er selbst mit seiner Dirne zusammen Schläge bekomme.

5. Wer irgeneinen Menschen, der zum Palaste kommt, bei sich aufnimmt oder auch selbst herbeibringt und nicht dafür sorgt, daß dieser [nach Erledigung seines Geschäftes] wieder abreise, der soll, wenn durch jenen irgendein Schaden entsteht, ihn entweder vorführen oder, wenn er das nicht kann, an seiner Stelle selbst den von jenem angerichteten Schaden bezahlen.

6. Die Pfalzgrafen sollen genau darauf achten, daß Bittsteller, wenn sie ihnen die Bittschrift eingereicht haben, sich nicht länger in unserem Palaste aufhalten.

7. Über Bettler und Arme sollen Vögte bestellt werden, die mit großer Sorgfalt und Einsicht über sie walten, auf daß sich nicht Simulanten unter ihnen verbergen.
 

Karl der Große, Anweisungen an die Sendboten, 803
(Capitulare missorum. Zitiert nach: Geschichtliche Weltkunde 1. Hsg. von Wolfgang Hug, Verlag Moritz Diesterweg 1981)

1. Über die Restaurierung der Kirchen. Sind mehr als nötig an einem Ort, so sollen die entbehrlichen abgerissen,    die
   anderen erhalten werden.

2. Keine Priesterweihe ohne vorherige Prüfung. Kirchenausschluß nicht strichweise und ohne Grund.

3. Unsere Sendboten sollen Schöffen, Vögte, Notare ortsweise auswählen und deren Namen Uns bei ihrer Rückkehr
   aufgezeichnet mitbringen.

4. Wer sich weigert, sich an das Recht zu halten, soll durch Bürgen Uns vorgeführt werden.

5. Wer Heerbann schuldet, soll die Zahlung an den Heerbann-Einzieher entrichten.

6. Flüchtlinge und Fremde sind in Acht zu nehmen; Wir wollen wissen können, wer sie sind und woher sie kommen.

7. Armschienen und Brünnen (eiserne Rüstung) dürfen Händlern nicht veräußert werden.

8. Entsprechend Unserem Befehl sollen die Maße einheitlich sein.

9. Gegen Besitz aus der Zeit des Herrn Königs Pippin dürfen Zeugen nicht vorgebracht werden.

10. Ein Hintersasse oder Königsknecht kann außerhalb seines Beszirks sonst nicht Vergabungen vornehmen.

11. Niemand soll sich erkühnen, einen Mann zu anderem Zweck als Urteils halber vor Gericht zu bringen.

12. Ein freier Mann, hat er im Kloster sich scheren lassen und sein Gut dahin vergabt, muß sein Gelübde nach der
     Ordensregel treu einhalten.

13. Was man entsprechend dem Gesetz wetten soll, muß auch vollzählig nach Gesetz gewettet werden. Nachher
     mag dann der König oder Kläger, wenn es ihm so gut scheint, Milde walten lassen.

14. Wenn Bischöfe, Äbte, Grafen nicht vor Unserem Gericht erscheinen.

15. Kein Betrunkener darf vor Gericht seine Sache betreiben noch Zeugnis leisten; auch der Graf soll nur
     in nüchternem Zustand Gericht halten.

16. Keiner darf einen anderen zum Trinken nötigen.
...
19. Das Volk ist wegen der neuerdings zu den Volksrechten erlassenen Kapitel zu befragen. Nachdem alle
    zugestimmt haben, sollen sie ihre Unterschrift und Handfestung auf dem Kapitular anbringen.
...
28. Nach Falschmünzern ist zu fahnden.

29. Wenn nichts anderes unverhofft dazwischentritt, wollen wir am 24. Juni, zur St. Johannes-Messe, in Mainz oder
     Chalon einen allgemeinen Reichstag abhalten.

Die Straßburger Eide, 842
(Nithardi historiarum libri IV. III, cap 5.)

Es trafen sich also am vierzehnten Februar Ludwig und Karl in der Stadt, die ehedem Argentaria hieß und nun Straßburg heißt, und schwuren wie unten folgt. Ludwig aber sprach romanisch, Karl deutsch. Und bevor sie ihre Eide ablegten, wandte sich jeder an das um ihn versammelte Volk, der eine in deutscher, der andere in romanischer Sprache. Ludwig als der Ältere begann: "Wie oft Lothar nach dem Tode unseres Vaters mich und meinen Bruder verfolgte und zu vernichten suchte, wißt ihr. Da aber weder das gemeinsame Blut, noch der Christenglaube und Vernunftgründe zu einem gerechten Frieden zwischen uns führten, so sehen wir uns gezwungen, unsere Sache vom Gerichte des allmächtigen Gotts entscheiden zu lassen, nach seiner Entscheidung wollen wir uns mit dem zufriedengeben, was jedem von uns zukommt ...
 Nachdem Karl dasselbe in romanischer Sprache ausgeführt hatte, versicherte Ludwig als der Altere zuerst, folgendes halten zu wollen: "Pro Deo amur et pro Christian poblo et nostro commun saluament, d'ist di in auant, in quant Deus sauit et podir me dunat, si saluarai eo cist meon fradra Karlo et in aiudha et in cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradre salvar dist, in o quid il mi altresi fazet; et ab Ludher nur plaid numquam prindrai, qui meon uol cist meon fradre Karle in damno sit."
 Nachdem Ludwig geeendet hatte, beschwor Karl in deutscher Sprache dasselbe also: "In Godes minna ind in thes Christianes folches ind unser bedhero gealtnissi, fon thesemo dage frammordes, so fram so mir Got geuuizci indi mahd furgibit, so haldih thesanminan bruodher, soso man mit rehtu sinan bruodher scal, in thiu thaz er mig sosoma duo; indi mit Ludheren in nohheiniu thing ne gegango, zhe minan uuillon imo ce scadhen uuerhen." [Aus Liebe zu Gott und zu des christlichen Volkes und unser beide heil von diesem Tage an in Zukunft, soweit Gott mir Wissen und Macht gibt, will ich diesen meinen Bruder sowohl in Hilfeleistung als auch in anderer Sache so halten, wie man von rechtswegen seinen Bruder halten soll, unter der Voraussetzung, daß er mir dasselbe tut; und mit Lothar will ich auf keine Abmachung eingehen, die mit meinem Willen diesem meinem Bruder schaden könnte.]
 Der Eid aber, den jedes der beiden Völker in seiner eigenen Sprache ablegte, lautet also: "Oba Karl then eid, then er sinemo bruodher Ludhuuuige geswur, geleistit, indi Ludhuuuig min herro, then er imo gesuot, forbrihchit, ob ih inan es iruuenden ne mag, noh ih noh thero nohhein, then ih es iruuenden mag, uuidhar Karle imo ce follusti ne uuirdhit." [Wenn Karl den Eid, den er seinem Bruder Ludwig schwört, hält und Ludwig mein Herr ihn seinerseits nicht hält, wenn ich ihn davon nicht abbringen kann, werde weder ich noch irgendeiner, den ich davon abbringen kann, ihm gegen Karl irgendwelchen Beistand geben.]
 
 

Die Rechtsteilung von Verdun, 843
(Annales Bertiniani 843)

Karl begab sich zur verabredeten Besprechung zu seinen Brüdern und traf sie in Verdun. Man teilte nun das Reich also: Ludwig erhielt alles Gebiet jenseits des Rheines, auf der linken Seite des Stromes die Städte Speyer, Worms und Mainz mit den dazu gehörigen Gauen; Lothar das Gebiet der Rhein- und Scheldmündung, das Gebiet von Cambrai, Hennegau, die Lomensische und Castricische Grafschaft, sowie die Grafschaften, welche an das Ufer der Maas stoßen bis zur Mündung der Sa“ne in die Rhone, und dann die Rhone entlang rechts und links die Grafschaften bis zur Mündung dieses Stromes. Außerdem erhielt er durch das Entgegenkommen seines Bruders Karl noch das Gebiet von Arras. Alles übrige bis nach Spanien hin fiel an Karl. Nachdem sie gegenseitig diese Verteilung beschworen hatten, gingen sie auseinander.

Bericht über eine Hungersnot, 85
(Fuldaer Annalen. Zitiert nach: Geschichtliche Weltkunde 1. Hsg. von Wolfgang Hug. Verlag Moritz Diesterweg 1981)


In diesem Jahre drückte schwere Hungersnot die Völker Germaniens, vornehmlich die um den Rhein wohnenden; denn ein Scheffel Getreide wurde in Mainz für 10 Sekel Silber verkauft. Es hielt sich aber zu der Zeit der Erzbischof auf einem Hof seines Sprengels namens Winkel auf, wo er Arme, die von verschiedenen Orten kamen, aufnahm und täglich mehr als 300 speiste, die abgerechnet, welche beständig bei ihm aßen. Es kam auch eine fast verhungerte Frau mit einem kleinen Kind zu ihm und wollte von ihm wieder belebt werden, doch ehe sie die Türschwelle überschritt, stürzte sie vor allzu großer Schwäche zusammen und hauchte den Geist aus. Und als der Knabe die Brust der toten Mutter, als wenn sie noch lebte, aus dem Kleid zog, und zu saugen versuchte, brachte er viele, die es mit ansahen, dahin zu seufzen und zu weinen.
 In diesen Tagen zog auch einer vom Grabfeld mit seinem Weibe und einem kleinen Sohn nach Thüringen, um das Elend seiner Not zu lindern, und unterwegs im Wald sagte er zu seinem Weib: "Wäre es nicht besser, diesen Knaben zu töten und sein Fleisch zu essen, als daß wir alle vor Hunger umkommen?" Als sie aber widersprach, er solle kein solches Verbrechen begehen, riß er edlich, weil der Hunger drängte, gewaltsam den Sohn aus den Armen der Mutter, und er hätte seinen Willen in die Tat umgesetzt, wäre ihm nicht Gott in seiner Erbarmnis zuvorgekommen. Denn, wie derselbe Mann nachher, als er in Thüringen war, sehr vielen erzählte, hatte er schon sein Schwert aus der Scheide gezogen, um den Sohn zu schlachten, zögerte aber noch, schwankend geworden, mit dem Mord, da sah er in der Ferne zwei Wölfe über einer Hirschkuh stehen und ihr Fleisch zerreißen; und sogleich lief er, vom Sohn ablassend zu der toten Hirschkuh, trieb die Wölfe weg, nahm von dem angefressenen Fleisch und kehrte mit dem unversehrten Sohne zu der Frau zurück. Er war nämlich vorher, als er den Sohn aus den Händen der Mutter genommen hatte, etwas beiseite gegangen, damit sie das Sterben des Knaben nicht sehe oder höre.
 Wie sie nun aber den Mann kommen sah mit dem frischen blutigen Fleisch, glaubte sie, ihr Sohn sei getötet, und fiel rücklings fast leblos nieder. Er aber trat zu ihr, tröstete sie, richtete sie auf und zeigte ihr das Kind lebend. Da dankte sie nun, als sie wieder zu sich kam, Gott, daß sie für wert geachtet sei, ihren Sohn gesund wieder zu bekommen; ebenso der Mann, daß Gott ihn rein von dem Morde des Kindes zu erhalten gewürdigt habe. Beide jedoch stärkten sich notgedrungen an dem vom Gesetz verbotenen Fleisch.
 

Heuschreckeneinfälle, 873
Regino von Prüm, Chronica, 873)


Im Jahr der göttlichen Menschwerdung 873 verwüstete eine unermeßliche Menge von Heuschrecken, die im August von Osten her erschien, fast ganz Gallien. Sie waren größer als andere Heuschrecken und hatten sechs Flügelpaare. In wunderbarer Weise flogen sie wie Abteilungen eines Heerlagers in getrennten Scharen durch die Lüfte oder, wenn sie sich zur Erde niederließen, schlugen sie so ihr Lager auf. Die Führer gingen mit wenigen dem Heere um eine Tagereise vorauf, als wollten sie für Plätze sorgen, die der Menge angemessen wären.
 Um die neunte Stunde ließen sie sich nieder, wo am Vortag ihre Führer angelangt waren, und bewegten sich von dem eingenommenen Orte nicht eher fort, als bis die Sonne wieder aufging; dann brachen sie rottenweise auf, so daß man an den kleinen Geschöpfen die Mannszucht des Krieges wahrnehmen konnte. Sie nährten sich von den Saaten, die von ihnen so abgfressen wurden, als wären sie von einem ungeheuren Unwetter vernichtet. Die Länge einer Tagereise erstreckte sich bei ihnen auf 4 bis 5 Meilen. Sie gelangten aber, indem sie so die Oberfläche der Erde bedeckten, bis zum bretonischen Meere, in welches sie nach Gottes Willen durch einen heftigen Wind hineingetrieben, auf die hohe See fortgerissen und versenkt wurden.
 Durch die Flut aber und das Zurückströmen des Ozeans an Land geworfen, erfüllten sie die Seegestade und zwar in solcher Häufung, daß sie bergehoch zusammengeschichtet waren; durch ihren Gestank und ihre Fäulnis wurde die Luft verpestet und erzeugte daraus für die Umwohnenden eine furchtbare Seuche, an der viele den Tod fanden.
 

Die grausamen Ungarn
(Regino von Prüm, Chronica, 889)

Im Jahre der göttlichen Menschwerdung 889 zog das sehr wilde und alle Raubtiere an Grausamkeit übertreffende Volk der Ungarn, das in den vorhergehenden Jahrhunderten deshalb unerhört ist, weil es nicht einmal genannt wird, von den scythischen Reichen und von den Sümpfen aus, welche der Don durch sein Austreten in unermeßlicher Breite ausdehnt. Aber ehe wir den grausamen Taten dieses Volkes selbst mit unserem Griffel folgen, mag es nicht überflüssig erscheinen, wenn wir im Anschluß an die Worte der Geschichtsschreiber [Justinus] einiges über die Lage von Scythien und die Sitten der Scythen beibringen. "Scythien, das sich Osten erstreckt, wird, wie sie sagen, auf der einen Seite vom Pontus, auf der anderen von den Riphäischen Gebirgen eingeschlossen, im Rücken von Asien und dem Flusse Ithasis [Phasis]. Es dehnt sich aber in die Länge und Breite weit aus.
 Die Menschen, die dies Land bewohnen, haben untereinander keine Grenzen; denn sehr selten bauen sie das Land, noch haben sie irgendein Haus oder Obdach oder einen festen Sitz, da sie beständig ihre Herden von großem und kleinem Vieh weiden und unbebaute Einöden unstet zu durchziehen pflegen. Ihre Weiber und Kinder führen sie auf Wagen mit sich, die sie der Regengüsse und Winterkälte halber mit Tierhäuten bedecken und als Häuser gebrauchen. Kein Verbrechen ist bei ihnen schwerer als der Diebstahl, denn da sie ohne den Schutz eines Hauses nur ihre Herden von großem und kleinem Vieh und ihre Lebensmittel besitzen, was würde ihnen in ihren Wäldern noch übrig bleiben, wenn das Stehlen erlaubt wären? Gold und Silber begehren sie nicht in dem Maße wie die übrigen Sterblichen, sie widmen sich den Übungen der Jagd und des Fischfangs und nähren sich von Milch und Honig. Der Gebrauch der Wolle und der Kleider ist ihnen unbekannt, und obgleich sie von unaufhörlicher Kälte geplagt werden, ziehen sie doch nur Felle von Raub- und Nagetieren an.
 Die Herrschaft über Asien gewannen sie dreimal, sie selbst aber blieben beständig von fremder Herrschergewalt entweder unangetastet oder unbesiegt; und nicht minder wurden sie durch die Heldentaten ihrer Weiber als durch die ihrer Männer berühmt, da sie selbst die Reiche der Parther und die Bactrianer, ihre Weiber aber die der Amazonen gegründet haben, so daß, wer die Taten der Männer und Weiber vergleicht, völlig im Ungewissen ist, welches Geschlecht bei ihnen ausgezeichneter gewesen sei. Den Perserkönig Darius trieben sie in schimpflicher Flucht aus Scythien, den Cyrus erschlugen sie mit seinem ganzen Heere, Alexanders des Großen Feldherrn Zopyrion vernichteten sie auf gleiche Weise mit allen seinen Truppen; von der Römer Waffen haben sie gehört, aber sie nicht zu spüren bekommen.
 Zu Strapazen und Kriegen sind sie abgehärtet, ihre Körperkräfte sind ungeheuer!" Sie haben aber einen solchen Überfluß an Volksmenge, daß der heimatliche Boden nicht hinreicht, sie zu ernähren. "Denn [so Paulus Diaconus] je weiter der nördliche Himmelsstrich von der Hitze der Sonne entfernt ist und von Eis und Schnee kalt, desto gesünder ist er für die Körper der Menschen und begünstigt die Volksvermehrung; wie umgekehrt alles mittägliche Land, je näher es der Glut der Sonne liegt, deshalb immer voll Krankheiten und für die Hervorbringung von Menschen weniger geeignet ist; daher kommt es, daß so große Völkermassen unter der nördlichen Achse geboren werden, daß nicht mit Unrecht jener ganze Landstrich vom Don bis Sonnenuntergang mit dem allgemeinen Namen Germanien bezeichnet wird, wenn auch einzelne Gegenden wieder ihre besonderen Benennungen haben.
 Aus diesem volkreichen Germanien nun werden oftmals zahllose Scharen Gefangener fortgeführt und an die südlichen Völker verkauft; öfter sind auch viele Völkerschaften von da ausgezogen, eben weil das Land so viel Menschen hervorbringt, wie es kaum ernähren kann, und haben zwar auch Asien, vorzugsweise aber das anstoßende Europa heimgesucht. Das bezeugen allenthalben zerstörte Städte in ganz Illyricum und Gallien, besonders aber in dem unglücklichen Italien, das die Wut fast aller jener Völker erfahren hat."
 Aus den oben bezeichneten Gegenden also wurde das erwähnte Volk von den ihm benachbarten Stämmen, den Petschenegen, von seinen eigenen Sitzen vertrieben, weil jene an Zahl und Tapferkeit überlegen waren und das heimatliche Land, wie wir zuvor erzählten, bei dem übermäßigen Anwachsen der menge zu Wohnplätzen nicht genügte. Von jenem Volke also mit Gewalt verjagt, sagen sie ihrem Vaterlande Lebewohl und begeben sich auf die Wanderung, um Länder aufzusuchen, die sie bewohnen und darin ihre Sitze aufschlagen könnten. Und zwar durchwandern sie zuerst Einöden der Pannonier und Avaren und suchen ihre tägliche Nahrung im Jagen und Fischen; dann brechen sie auf häufigen feindlichen Einfällen in Kärnten, Mähren und Bulgarien ein und töten einige mit dem Schwerte, viele Tausende mit Pfeilen, die sie mit solcher Kunst aus Bogen von Horn entsenden, daß man sich vor ihren Schüssen schwerlich zu schützen vermöchte ...
 Ihre Art zu fechten ist desto gefährlicher, je ungewohnter sie den übrigen Völkern ist. Zwischen ihrer Kampfesweise und der der Bretonen besteht nur der eine Unterschied, daß diese sich der Wurfspieße, jene der Pfeile bedienen. Sie leben nicht nach Art von Menschen, sondern wie das Vieh. Sie nähren sich nämlich, wie das Gerücht geht, von rohem Fleisch, trinken Blut, verschlingen als Heilmittel die in Stücke zerteilten Herzen ihrer Gefangenen, lassen sich durch kein Gejammer erweichen, durch keine Regung des Mitleids rühren. Das Haar schneiden sie bis auf die Haut mit dem Messer ab.
 "Auf [Justinus] den Pferden reiten sie alle Zeit; auf ihnen pflegen sie zu gehen und zu stehen, nachzusinnen und sich zu unterhalten. Ihre Kinder und Sklaven lehren sie mit großem Fleiße reiten und pfeilschießen. Ihr Geist ist aufgeblasen, betrügerisch und frech. Denn dieselbe Wildheit messen sie den Frauen wie den Männern bei, immer sind sie entweder zu äußeren oder zu inneren Unruhen in rastloser Bewegung, von Natur schweigsam, im Handeln schneller als im Reden". Durch die Grausamkeit dieses abscheulichen Volkes also wurden nicht nur die erwähnten Gegenden, sondern auch das italische Reich zum allergrößten Teile verwüstet.