Die Wende in Ungarn 1988/89

In Aufsatzform haben sich im November und Dezember 1998 18 Schülerinnen und Schüler des zweisprachigen deutschen Zuges der Klasse 4c mit dem Thema „Wie hat sich die politische Wende in Ungarn auf mein Leben und das meiner Familie ausgewirkt?" beschäftigt. Im folgenden gibt die Schülerin Hajnalka Fodor eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse dieser Aufsätze.

Die Wende vom Sozialismus zur Demokratie hatte große Wirkungen auf das Leben vieler Menschen. Diese Leute, die in der Politik tätig waren, haben ihre Stellen verloren, und auch jene Leute, die in den Fabriken oder in solchen kleineren staatlichen Betrieben arbeiteten, die einige Monate später privatisiert wurden. Es gab also nach der Wende viele Probleme, die die neue Regierung lösen sollte. Im allgemeinem lebten die Menschen nicht besonders schlecht, oder sie fühlten das nicht so. Sie haben sich daran gewöhnt, so zu leben, wie es damals die Bedingungen ermöglicht haben.

Als die Wende kam, waren wir ungefähr 7 Jahre alt, also unsere Generation war von dieser Sache nicht zu stark betroffen. Wir hatten davon noch viel gespürt, aber wir haben nicht bemerkt, was es eigentlich war. Wir waren damals noch Kleinkinder und haben nur unser Leben gelebt. Für uns war die Politik eine langweilige und unverständliche Sache der Erwachsenen. Wir wußten nicht, daß wir eigentlich auch am politischen Leben teilgenommen haben: Unsere Generation war noch einige Jahre lang Kleinpionier. Wir haben alles so aufgefaßt, als wäre es ein Spiel. Der Ziel dieser Pionierbewegung war, die Kinder in einem sozialistischen Geist aufzuziehen. Theoretisch war es kein Pflicht, Pionier oder Kleinpionier zu werden, aber wer das nicht mitgemacht hat, hatte später schlechtere Chancen im Leben. Damals wußte man noch nicht, daß die sozialistische Zeit bald zur Ende geht, also war jeder von uns Kleinpionier. Wir erinnern uns noch an die großen Feste, zum Beispiel an den 4. April – Tag der Befreiung Ungarns durch die Rote Armee nach dem 2. Weltkrieg - , was immer ein riesiges Ereignis war, und daran mußten die Leute immer gerne teilnehmen.

Unser Leben war mit 7 so wie das Leben eines heutigen Kindes. Der einzige Unterschied war nur die Bestrebung, uns sozialistisch zu erziehen, aber es hatte eigentlich eine sehr geringe Wirkung. Was die weiteren Unterschiede zum Leben der heutigen Kinder betrifft, kann man sagen: Wir hatten andere Spiele und Beschäftigungen, aber das hing nicht mit dem Sozialismus zusammen, sondern eher mit der technischen Entwicklung der Welt. Wir Kinder haben nie daran gedacht, daß wir auch anders leben könnten. Wir waren mit unserem Leben zufrieden.

Im Leben unserer Eltern spielte die sozialistische Zeit eine sehr wichtige Rolle, denn sie haben sie fast vom Anfang an bis zum Ende durchgelebt, und sie haben uns auch viel darüber erzählt. Vieles konnten wir uns aber davon nicht vorstellen. Als wir begannen, uns für die Politik zu interessieren, war die Staatsform schon demokratisch, und das wichtigste Ziel war, alles zu vergessen, was während dieser Zeit passiert ist.

Als eine Zusammenfassung unserer Meinungen und Erinnerungen folgen hier einige Zitate aus unseren Aufsätzen.

„Die Wende war einer der bedeutendsten Punkte in der Geschichte von Ungarn.
…im Kapitalismus sind die Werte der Menschen anders. Das Geld spielt eine große Rolle!"

Krisztina Tóth, 18 Jahre


„Meine Großeltern arbeiteten damals in staatlichen Unternehmen, aber nach der Wende wurden diese geschlossen, und meine Großeltern sind in Pension gegangen."

István Márkus, 18 Jahre


„…die gegenwärtige Geschichte wird immer anders interpretiert als die, die in der Zukunft erklärt wird. Woher kann ich dann jetzt wissen, ob da, was mir mitgeteilt wurde, wahr ist, was wirklich passiert ist und passiert?"

Zsófia Szarvassy, 17 Jahre


„…in den achtziger Jahren gab es montags keine Sendungen im Fernsehen ... Die Wende konnte man nicht vermeiden, Ungarn konnte sich nicht mehr weiterentwickeln und mußte daher den ausländischen Ereignissen folgen."

Tamás Szûcs, 17 Jahre


„…in diesem Jahr sind wir weit von Budapest weggezogen in eine kleine Stadt neben Miskolc, also von der tatsächlichen Wende haben wir nicht so viel mitgekriegt."

Eszter Góczán, 18 Jahre


„Ich habe damals mit meinen Freunden gespielt und politisch war ich nicht interessiert, aber ich weiß, daß man nach der Wende größere Möglichkeiten hatte, die eigenen Interesse verwirklichen zu können."

Ágnes Pigniczky, 19 Jahre


„Die Lebensauffassung änderte sich langsam, wurde immer lockerer…Wir mußten auch kein Russisch lernen, was früher in den Schulen Pflicht war."

Flóra Már, 18 Jahre


„Das Leben ist nicht besser oder einfacher geworden, sondern jetzt sind die Bedingungen gegeben, sich ein besseres Leben zu schaffen."

Gergõ Szabó, 18 Jahre


„Ich konnte die Wende nicht richtig erleben… Für mich haben sich nur die Märchen im Fernseher geändert.
Freiheitsrechte wurden im Sozialismus nicht geachtet, ich dagegen bin schon in der Demokratie aufgewachsen."

Anna Stieber, 17 Jahre




Stellvertretend für alle Aufsätze und in vielem typisch für diese sei hier der Aufsatz von Ágnes Józsa wiedergegeben:

Ich bin Schülerin am Karinthy Frigyes Gimnázium und gehe jetzt in die 4. Klasse. Meine Mutter ist Lehrerin an einem Gymnasium und mein Vater ist Jurist. Wir haben ein Einfamilienhaus in Budapest, wo wir mit unseren drei Hunden leben.

Als in Ungarn die große politische Wende war, war ich erst 8 Jahre alt, also kann ich mich nicht mehr gut an die politischen Geschehnisse erinnern. Ich war genauso ein Kind vor wie nach der Wende.

Woran ich mich trotzdem erinnern kann, ist, daß ich sehr oft mit meiner Gruppe wandern ging und wir damals Lieder sangen, die ich danach nie wieder hörte.

Meine Großeltern leben auf dem Land und sie waren Mitglieder der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Als ich klein war, ging ich oft mit meinem Großvater dorthin, um die Kälbchen anzuschauen. Auf einmal kaufte jemand alle Gebäude und die Kälbchen waren weg, und nicht mal mein Großvater konnte mir sagen, wohin sie gebracht worden waren. Heute weiß ich natürlich, daß diese Produktionsgenossenschaft wie viele andere staatliche Betriebe auch privatisiert wurde. Meine Großeltern hatten in diesem Fall Glück, weil sie zu diesem Zeitpunkt schon in Rente gingen, aber viele Bekannte aus dem Dorf verloren ihre Arbeitsplätze wegen der Privatisierung.

Mich traf am schwersten, daß meine Mutter danach nicht besonders viel Zeit für mich hatte. Sie war Russischlehrerin und mit der Wende war es nicht mehr obligatorisch, in der Schule Russisch lernen zu müssen. Meine Mutter wäre jetzt arbeitslos, wenn sie nicht Englisch gelernt hätte. Sie mußte noch einmal auf die Universität gehen und das ganze Englischstudium nahm 6 Jahre von ihrem Leben weg. Ich wurde darum so selbständig, weil ich oft allein war. Sie hatte inzwischen immer mehr von der russischen Sprache vergessen, weil heute fast niemand mehr Russisch lernen möchte. In der Schule unterrichtet sie nur noch Englisch, obwohl sie immer noch sehr gern Russisch spricht. Die gute Sache dabei ist, daß so meine Mutter noch eine Fremdsprache gelernt hat, die sie vielleicht ohne diese Wende nicht gelernt hätte.

In dem neuen politischen System gab es eine Art Entschädigung, bei der viele das Eigentum zurückerhielten, das sie nach dem 2. Weltkrieg verloren hatten. Meine Großeltern bekamen auch eine Entschädigung, weil von ihnen viel Land weggenommen worden war. Außerdem gibt es in ihrem Dorf jetzt ein Denkmal, das zu Ehren der gefallenen Soldaten errichtet wurde, die an der Seite der Deutschen starben. Vor der Wende durfte man dieser Helden nicht gedenken. Dieses einfache Beispiel allein zeigt uns, daß wir heute mehr Freiheit genießen können als früher.

Das ist auch wahr im Falle des Reisens. Vor der Wende konnte man nur sehr selten in die westlichen Länder reisen. Heute braucht man keine Genehmigung mehr, um ins Ausland fahren zu können, was vorher unvorstellbar war.

Wirtschaftlich entwickelt sich Ungarn seit dieser Zeit viel rascher, aber wir haben immer noch viel aufzuholen. Wenn diese Wende nicht stattgefunden hätte, wären wir jetzt wahrscheinlich auf der gleichen Stufe wie Rußland. Und Rußland liegt heute wirtschaftlich auf dem Boden. Ich denke, daß unsere damaligen Politiker die richtige Entscheidung trafen.

Ungarn ist jetzt schon auf dem Weg zur Europäischen Union und wenn wir unseren Rückstand aufgeholt haben werden, werden wir genauso ein reiches und stabiles Land sein wie alle anderen Länder in Westeuropa.